Isabel Mundry (*1963) Dufay-Bearbeitungen
[KamEns] 2003/04 Dauer: 30'
Fl(Picc.A-Fl.B-Fl).Ob(Eh).Klar(B-Klar) – Schl – Klav – Vl.Va.Vc
UA: Luzern, 6. September 2003
Mein Impuls, mit Dufays Musik schreibend umzugehen, war davon getragen, Reflexe des eigenen Denkens in ihr zu finden, wie ich in der eigenen Musik auf der Suche nach Fremdheit bin. Der Auseinandersetzung mit Dufays Musik liegt ein Initialerlebnis zugrunde, indem ich eines Nachts alle verfügbaren Chansons und Hymnen jeweils so häufig hörte, wie sie Stimmen haben, und alle Stimmen nacheinander aus der Partitur mitgesungen habe. Dabei bekam ich den Eindruck, immer das Gleiche zu singen, doch stets aus einer verschobenen Perspektive, umgeben von verwandten Melodieverläufen zu sein, doch gerade dadurch die eigene Distanz zu ermessen. Permanent unterliegt die Musik feinen Schwankungen, Verschiebungen und Verwandlungen, so dass der Stabilität der Wiederholung gleichsam die Instabilität der Umdeutung innewohnt, eine Phrase hier einen Anfang und dort ein Ende bedeuten kann. So entsteht eine Musik des Tastens, die ausgehend von kleinsten Zellen, feine Resonanzen und Transformationen erzeugt, um das Eigene im nächsten Moment zum Gegenüber werden zu lassen und Phänomene wie Ferne und Nähe, Halten und Verschwinden, Stabilisieren und Lösen in ihrem Innersten zu thematisieren. Die Bearbeitungen gehen diesen Eindrücken nach, den verschobenen Perspektiven des Gesangs und den Rätseln, die sich aus der Mehrdeutigkeit von Zeitgestalten ergeben. In den Wiederholungen der Chansons werden je verschiedene Artikulationen des musikalischen Blickes vorgenommen, werden gleich bleibende Phrasen mal als Ausklang, mal als Beginn gezeichnet, oder Submelodien zum Vorschein gebracht, die quasi unsichtbar zwischen den Stimmen angesiedelt sind und somit quer zu den melodischen Verläufen stehen. Doch mit der Fülle an Deutungsmöglichkeiten geht gleichsam die Erfahrung der Leere einher, die sich dort auftut, wo jede einzelne Entscheidung um ihre Relativität weiß, um ihr mögliches Verschwinden in einer wandelbaren Perspektive. Nicht zuletzt handeln die Bearbeitungen auch von diesen Leerräumen, den Lücken des Verstehens, die das Dunkel der zeitlichen Ferne ebenso berühren wie das Dunkel des Augenblicks der kompositorischen Entscheidung.
(Isabel Mundry, 2007)
Bibliografie:
Arnecke, Jörn: Nahe Ferne. Guillaume Dufay in der Neuen Musik, in: Von Brücken und Brüchen. Musik zwischen Alt und Neu, E und U, hrsg. von Jörn Arnecke, Hildesheim u. a.: Olms, S. 9-30.
Wald-Fuhrmann,Melanie: Altneue Musik. Zur Auseinandersetzung Isabel Mundrys mit Dufay, Scandello und Couperin, in: Isabel Mundry, hrsg. von Ulrich Tadday (= Musik-Konzepte. Neue Folge, Sonderband), München: edition text+kritik 2011, S. 51-72.
CD:
ensemble recherche
CD KAIROS, 0012642KAI
I/1 Pour ce que veoir je ne puis |
I/2 Se la face ay pale |
I/3 Helas mon dueil, a se cop sui mort |
II/4 Mon bien m'amour |
II/5 Ce jour de l'an voudray joye mener |
II/6 Or pleust a dieu qu'a son plaisir |
III/7 Entre les plus plaine danoy |