Hans Zender (1936–2019) Kalligraphien
[Orch] 1997/1998/1999/2004
Uraufführung von Kalligraphie I und V: Berlin, Konzerthaus, 25. Juni 2004
Uraufführung von Kalligraphie II: Basel/Schweiz, 2. März 2000
Uraufführung von Kalligraphie III: München, 11. Dezember 1999
Uraufführung von Kalligraphie IV: Stuttgart, 27. November 1998
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Die Kunst der Kalligraphie in Ostasien hat mein Denken seit den siebziger Jahren tief beeinflusst. Die gleichen alten Sentenzen oder Gedichtzeilen werden immer neu geschrieben; dadurch behält die Kultur auf der einen Seite den Kontakt zu ihren Wurzeln, während auf der andern Seite das künstlerische Augenmerk sich uneingeschränkt an die individuelle Formsprache des jeweiligen Kalligraphen heften kann. Der semantische Kern der Kunst bleibt trotz der größten Freiheit der interpretierenden Schrift intakt; Form und Inhalt können nie auseinander treten.
In der europäischen Musik gab es in der Cantus-firmus-Komposition des Mittelalters etwas Vergleichbares: der Gregorianische Choral bildete das zugrunde liegende Material für die Musik, ohne expressiv oder gar illustrativ ausgedeutet zu werden. Man kann die Schönbergsche Zwölftontechnik, ja das gesamte serielle Denken als eine Spätform dieses Cantus-firmus-Denkens ansehen – allerdings ist es ein abstrahiertes, d. h. entsemantisiertes Denken. Schon bei Alban Berg, und dann erst recht bei Olivier Messiaen kann man Neuansätze für semantisiertes Material finden; bei Messiaen und später bei B. A. Zimmermann gibt es sogar die Wiederverwendung gregorianischer Choralzeilen.
In meinen Kalligraphien arbeite ich mit den melodischen Linien der gregorianischen Pfingstliturgie – ähnlich wie ein Kalligraph mit den alten Schriftzeichen seiner Kultur. Diese Linien bestimmen das gesamte melodische Geschehen, ohne jemals wie Zitate direkt erkennbar zu werden. Sie werden in unterschiedlichster Weise rhythmisiert, in der Zeitrichtung wie in den Tonhöhen umgekehrt, sowie verkleinert (so dass aus Halbtönen Vierteltöne, aus Vierteltönen Sechsteltöne, ja Zwölfteltöne werden). Die Form wächst aus Modulationen zwischen verschiedenen Umformungen der Choralzeilen. Es handelt sich um einen Modulationsvorgang, den der Fachmann als „Ringmodulation“ bezeichnet: von jedem Grundintervall wird sein Differenz- und sein Summationston gebildet und ihm hinzugefügt.
Unser seit der Bachzeit stehengebliebenes temperiertes Tonsystem ist nicht ausreichend, um diese Modulationen abzubilden. Seit zehn Jahren entwickele ich ein neues, komplexeres Tonsystem, das nicht nur die bei Scelsi, Nono und anderen wichtig gewordenen kleinen und kleinsten Tonschritte präzise ausdrücken kann, sondern das auch die im termperierten System „verschmutzten“ Intervalle – alle Terzen und Sexten, sowie kleine Septe und übermäßige Quarte – rein darstellt. Um dieses Ziel, in enger Annäherung, zu erreichen, war es nötig, den temperierten Halbton noch sechsmal zu unterteilen: wir landen beim Zwölftelton. Um die kleinsten Tonschritte akustisch deutlich zu machen, stimme ich drei Klaviere und drei Harfen in sechs verschiedene Höhen ein; Streicher und Bläser müssen die neuen Intervalle erst hören und dann spielen lernen. Da sich die Notation auf der Basis der temperierten Stimmung aufbaut, ist diese Aufgabe zwar schwierig, aber lösbar. Unser unterscheidendes Denken hat sich in allen Bereichen des modernen Lebens enorm verfeinert; wieso sollte die Musik hier eine Ausnahme machen?
KALLIGRAPHIE III – eine fünfteilige Form mit konzertanten Elementen – ist für die Münchner Philharmoniker geschrieben. Ich lege außerdem die 1. Kalligraphie – ein mehr hymnisches Stück in einer Neuauffassung vor: der gesamte Pauken- und Schlagzeugpart wurde neu gestaltet.
(Hans Zender)
CD (Kalligraphie IV):
Bamberger Symphoniker, Ltg. Hans Zender
CD col legno WWE 8CD 20041 (Rückblick Moderne)
Bibliografie:
Strinz,
Werner: „Gegenstrebige Fügung …“. Observations sur la technique de
composition de Hans Zender dans „Kalligraphie IV“, in: Unité –
Pluralité. La musique de Hans Zender. Colloque Strasbourg 2012, hrsg.
von Pierre Michel, Marik Froidefond und Jörn Peter Hiekel, Paris:
Hermann 2015, S. 31-54.