Siegfried Matthus (1934–2021) Die Unendliche Geschichte
Märchenoper nach dem Roman von Michael Ende 2002 Text: Anton Perrey
26 Solisten – Chor: SATB – 3.2.Eh.2.B-Klar.2.Kfg. – 4.3.3.1. – Pk.Schl(3). – Hfe.Cel – Str
Uraufführung: Weimar, 10. April 2004
Siegfried Matthus hat nach der „Unendlichen Geschichte“ von Michael Ende nicht nur eine Oper erschaffen, auch ein Ballett und eine Orchesterfantasie stammen aus seiner Feder.
Informationen zu Uraufführung am 10. April 2004 in Weimar:
Deutsches Nationaltheater
Musikalische Leitung: Jac van Steen
Inszenierung: Michael Schulz
sowie
Trier, Theater
Musikalische Leitung: Andreas Henning
Inszenierung: Heinz Lukas Kindermann
Die Inszenierungen in der Saison 2004/2005:
Musikalische Leitung: Ingo Ingensand, Inszenierung: Mathias Davids
Linz, Landestheater, Großes Haus, 11. Dezember 2004
Österreichische UA: Weimar, Nationaltheater, 3. März 2005
Wiederaufnahme
Bastian Balthasar Bux wird häufig von seinen Klassenkameraden gehänselt: Er ist dick, trägt eine Brille, ist unsportlich und nicht besonders mutig. Kein Wunder, dass er immer wieder vor ihnen davonlaufen muss. Bei einer seiner Fluchten landet er in einem Antiquariat. Ein seltsames Geschäft – und doch, da ist ein Buch, das ihn magisch anzieht. Ein Griff, schnell hinaus zur Tür – und schon hat er das Buch gestohlen. Nein, so kann er nicht nach Hause kommen. Ein Dieb, unmöglich! Also versteckt er sich auf dem Dachboden der Schule und fängt an zu lesen ...
Michael Ende (1929–1995) zählt zu den bekanntesten deutschen Schriftstellern und ist gleichzeitig einer der vielseitigsten Autoren. „Die unendliche Geschichte“ (1979) gehört neben „Jim Knopf“ und Momo zu seinen meistgelesenen Werken. – Dem Komponisten Siegfried Matthus (*1934) liegt ganz besonders das Musiktheater am Herzen: „Für mich ist das Ideal die Vielfältigkeit des Theatererlebnisses insgesamt. Ich möchte dem Publikum in dieser Richtung ein Angebot machen, das unsere heutige Zeit widerspiegelt“, hat er einmal geäußert, und sein gutes Dutzend Opern veranschaulicht diese Aussage beeindruckend.
(Quelle: Trierer Theater)
„Der magische Bereich des Imaginären ist eben Phantásien, in das man ab und zu reisen muss, um dort sehend zu werden. Dann kann man zurückkehren in die äußere Realität, mit verändertem Bewusstsein, und diese Realität verändern, oder sie wenigstens neu sehen und erleben.“ (Michael Ende)
Die Reise des Bastian Balthasar Bux in das Land Phantásien, das von den Wolken des Nichts bedroht wird, fesselt unzählige Menschen in aller Welt. Michael Endes Buch ist inzwischen allein in Deutschland über 1,5 Millionen Mal verkauft worden. Dieser weltberühmte Stoff wird erstmals auf der Opernbühne zu sehen sein. Für dieses spannende Projekt hat der bedeutende Komponist Siegfried Matthus eine sinnliche und fesselnde Musik geschrieben, die die Klangwelten für das Reich Phantásien zur Verfügung stellt. Der besondere Reiz dabei ist, dass Endes Geschichte sich naiv als spannendes Fantasy-Abenteuer, aber auch in die Tiefe forschend und ausdeutend als psychoanalytische Geschichte einer Wanderung durch das Gehirn lesen lässt. So sind Kinder und Erwachsene gleichermaßen angesprochen; der Stoff verspricht großartige Unterhaltung für die ganze Familie.
„Tu, was du willst“, ist die Aufschrift auf dem Amulett Auryn, das seinem Träger die Macht der Kindlichen Kaiserin verleiht. Atreju, ein zehnjähriger Junge, bekommt es, um ein Mittel gegen das Nichts zu suchen, das das Land bedroht. Er besteht den Kampf gegen die vielarmige Riesenspinne Ygramul und gegen die vier Windriesen. Er lernt die uralte Schildkröte Morla kennen und kann mit Hilfe des Glücksdrachens Fuchur und des südlichen Orakels, in dem Uyulala, die Stimme der Stille, wohnt, das Nichts aufhalten, indem er Bastian, den Leser der Geschichte, in dieselbe hineinholt und ihn dazu bringt, der Kindlichen Kaiserin einen Namen zu geben.
In der Opernbearbeitung des berühmten Buches ist einer der großartigsten Stoffe der phantastischen Literatur auf eine ungeheuer prägnante und einfach zu fassende Weise für die musikalische Bühne gewonnen worden. Siegfried Matthus hatte mit Michael Ende selbst kurz vor dessen Tod über das Projekt sprechen können, der Schriftsteller war von den Ideen des Komponisten äußerst angetan.
Der erfahrene, musikdramatisch und theaterpraktisch extrem versierte Matthus hat aus seiner immensen Erfahrung und Kreativität ein ungeheuer abwechslungs- und farbenreiches Werk geschaffen, das den Anforderungen einer entfesselten Phantasie wie auch der Rezipierbarkeit für ein Familienpublikum in höchstem Maße gerecht wird. Jedes Bild der Oper, jedes Abenteuer, das die Helden bestehen müssen, hat seine ganz eigene Faktur, Farbigkeit und Atmosphäre. Gleichzeitig hat Siegfried Matthus es geschafft, seine Oper nur knapp 1 3/4 Stunden dauern zu lassen, so dass der Zuschauer und -hörer von der Fülle an Bildern und Klang keineswegs erdrückt wird.
Die Oper beginnt, als Bastian das Buch „Die Unendliche Geschichte“ aufschlägt. In einem flirrenden Orchestervorspiel werden die weißen Wolken des Nichts beschrieben, die Phantásien zu verschlingen beginnen.
Das erste Bild zeigt den Haulewald, der bereits vom Nichts bedroht wird. Ein Chor von singenden Bäumen klagt das Leid der phantásischen Einwohner, die Angst vor der Vernichtung haben. Sie wenden sich an die Kindliche Kaiserin um Hilfe.
Im zweiten Bild sieht man den Thronsaal der Kindlichen Kaiserin im Elfenbeinturm. Blubb, das Irrlicht, Pjörnzarck, der Felsenbeißer, Traumio, der Nachtalb und Vertreter des ganzen phantásischen Volkes sind versammelt, doch die Kindliche Kaiserin kann nicht helfen. Sie ist unheilbar erkrankt; das Nichts scheint schon auf sie zu wirken. Cairon, ihr Leibarzt, ein Zentaur, hat mit ihrer Botschaft an das Volk auch Auryn, das Kleinod, das seinem Träger alle Macht Phantásiens verleiht, mitgebracht und übergibt es dem Indianerjungen Atréju, der von der Kaiserin ausgewählt wurde, das Land zu retten.
Matthus hat die Chance des Musiktheaters ergriffen und das Auryn komponiert. Eine Koloratursopranistin malt mit silbrigen Vokalisen die Machtaura des Schmuckstückes aus und zeigt gleichzeitig die emotionale Bewegtheit seines Trägers.
Atréju besteht sein erstes Abenteuer, als er in die Sümpfe der Traurigkeit gerät. Dort trifft er auf die uralte Morla, eine Riesenschildkröte, eines der ältesten Wesen Phantásiens, und von einer unendlichen Langsamkeit. Ihr entlockt er die Information, dass die Kindliche Kaiserin geheilt werden kann, wenn sich jemand findet, der ihr einen neuen Namen gibt. Doch wie das vonstatten gehen kann, könne er nur im Südlichen Orakel bei Uyulala erfahren. Morla sagt, der Weg sei zu weit für Atréjus Leben, es gäbe keine Chance für ihn dorthin zu gelangen.
Als nächstes trifft er auf Ygramul die Viele, die gerade gegen Fuchur, den Glücksdrachen kämpft. Matthus komponiert für Ygramul einen Spinnenkörper (dramatischer Sopran) und vier Spinnenarme, die im Zusammenklang eine ungeheure Bedrohlichkeit entfalten. Ygramul verschont Atréju, da er das Auryn trägt, und verrät ihm, dass er sich von ihr beißen lassen müsse, um ins Südliche Orakel zu gelangen. Atréju lässt sich darauf ein.
Urgl und Engywuck, das Wissenschaftlerehepaar, das ein Observatorium am Rande des Südlichen Orakels eingerichtet hat, empfängt in plapperndem parlando, unterstützt von zwei Fagotten, den tödlich gebissenen Atréju. Sie versorgen ihn mit den nötigen Informationen, und als Atréju durch das Große Spiegeltor schreiten will, sieht er den lesenden Bastian im Spiegel. Hier, an der vielleicht spannendsten Stelle des Stückes, als sich die Frage stellt, wer oder was das Orakel sei, setzt Matthus die Pause.
Im Orakel des Südens schweigt das Orchester. Matthus komponiert einen ungeheuer atmosphärischen a cappella-Chorsatz, um den sich die Soprane der Uyulala, Atréjus und des Auryn ranken. In dieser Szene offenbart sich die ganze suggestive Kraft des Musiktheaters, das in der Lage ist, der Idee Michael Endes, ein körperloses Orakel zu zeigen, ganz nahe zu kommen. Atréju erhält die Antwort, nach der er gesucht hat: Er muss einen Menschen finden, außerhalb des phantásischen Reiches, der der Kindlichen Kaiserin den neuen Namen gibt.
Aus dem Himmel schießt Fuchur herab, heilt den vom Spinnengift tödlich bedrohten Atréju und fliegt mit ihm los, die Grenzen Phantásiens zu suchen. Die stürmischste Szene des Stückes beginnt. Unter Aufbietung der versammelten Kraft des großen romantischen Orchesters zeigt Matthus zunächst den Jubelflug Fuchurs und Atréjus, einen wahren Drachengalopp, um die beiden dann in den Kampf der vier Windriesen geraten zu lassen. Entfesselt dröhnen die Bläser und verklanglichen den Aufruhr einer entfesselten Natur auf höchst eindrucksvolle Weise.
Fuchur wird in einem Wirbel hinweg gerissen und verliert Atréju, der sich in der Spukstadt, im Gelichterland, dem Werwolf Gmork gegenüber wieder findet. Ab hier entsteht eine wahrhaft atemlose Spannung, bis der aufgeregt lesende Bastian sich schließlich entscheidet, in die Unendliche Geschichte hinein zu treten, der Kindlichen Kaiserin den neuen Namen „Mondenkind“ zu geben, und damit alles zu einem guten Ende zu bringen.
Aufgelockert wird die dichte Szenenfolge durch klangschöne Intermezzi, wahre Poesie-Miniaturen, in denen Atréju über die Schwierigkeiten nachsinnt, auf die er bei der Suche nach der Rettung der Kindlichen Kaiserin stößt. Um die Kaiserin selbst errichtet Matthus ein großes Mysteriosum. In der Besetzungsliste taucht sie nur mit *** auf, und auch in diesem Text soll vor der Uraufführung dieses Geheimnis nicht gelüftet werden.
(Quelle: Deutsches Nationaltheater Weimar, Dramaturgie)
„Die unendliche Geschichte“ 1979 erschien, war schnell klar, dass Michael Ende nach den heiß geliebten wie unvergänglichen Kinderbücher „Jim Knopf“ und „Momo“ ein weiterer großer Wurf gelungen war – ja, vielleicht sogar das zentrale Jugendbuch des späten 20. Jahrhunderts. Dessen Geheimnis liegt fraglos in der Faszination, die Endes unerschöpfliche Fantasiewelten auf junge und erwachsene Leser gleichermaßen ausüben. Und um nichts anderes geht es schließlich: um die Macht, aber auch um die Gefährdung unserer Fantasien und Träume, die mehr und mehr vom tristen Alltag überlagert und verschüttet werden. Der Waisenjunge Bastian träumt gegen diesen Bilderverlust an, träumt sich mit Hilfe eines gestohlenen Buches in das ferne und doch so nahe Land „Phantásien“. Phantásien aber ist vom Untergang, vom „unsichtbaren Nichts“ bedroht, sollte es nicht gelingen, seiner Herrscherin, der Kindlichen Kaiserin, einen neuen Namen zu geben. So wie Bastian, zunehmend gebannt, das geheimnisvolle Buch förmlich verschlingt, verschlingt die Geschichte nun umgekehrt ihn, saugt ihn hinein in die Fiktion, löst ihn aus der Realität. Unversehens muss Bastian erkennen, dass er selbst – ausgerechnet er! – zum Retter Phantásiens ausersehen ist … Die Grenzen verschwimmen: Wie wirklich ist die Wirklichkeit – wie fiktiv ist die Fiktion? Im Verbund mit seinem neuen Fantasie-Freund Atréju und unter dem Schutz des magischen Auryn macht sich Bastian auf, Phantásien neu zu erschaffen. Und am Ende findet er nicht nur einen Namen für die Kindliche Kaiserin, sondern auch zu sich selbst.
Siegfried Matthus ist vor allem durch seine zahlreichen Opern und Musiktheaterwerke bekannt geworden. Mit Geschick adaptierte er darin zentrale Stoffe aus Literatur und Geschichte, etwa in „Judith“ nach Friedrich Hebbel, „Graf Mirabeau“ nach Dokumenten der Französischen Revolution oder „Farinelli“ nach einer Textvorlage von Walter Jens. Ein so vieldeutiges Buch wie „Die unendliche Geschichte“ auf die Bühne zu bringen ist freilich selbst für Matthus eine besondere Herausforderung; er löst sie – so viel sei vorab verraten – mit der ihm eigenen Virtuosität und gibt dem Geschehen überdies eine überraschende neue Wendung.
(Quelle: Theater Hagen)