Hanspeter Kyburz (*1960) Réseaux
[Sext] 2003/2007/2012 Dauer: 25'
Fl(Picc.A-Fl).Ob.Hfe.Klav.Vl.Vc
UA der Erstfassung: Tokyo, Suntory Hall, 25. April 2003
UA der erweiterten Neufassung für Ens: Paris, 11. Mai 2012
Réseaux von Hanspeter Kyburz ist ein work in progress, das im Jahr 2003 seinen Anfang nahm. Kyburz hat es auf Anregung von Pierre Boulez für sechs Solisten geschrieben, die Boulez auf einer Japan-Tournee begleiteten. Ich habe damals eine kleine sechsteilige Skizze geschrieben, erklärt Hanspeter Kyburz, virtuos und ohne jede Vertiefung des Materials. Nun werden die damals lediglich exponierten thematischen Materialien in einer Reihe von Variationen entwickelt.
Der auslösende Impuls für dieses Werk war die Entdeckung des Malers Sesshu Toyo (14201506). Dieser japanische Künstler hat schmale, bis zu zwölf Meter lange Bildrollen bemalt. Bei der langsamen Durchsicht dieser schwarz-weißen Tusche-Malereien entfaltet sich deren eigene Dramaturgie: Wo der westliche Filmschnitt die abstrahierende, äußere Sicht auf das Geschehen ermöglicht oder im Gemälde die Spannung zwischen Situation und Format inszeniert wird, da begleitet der Blick des Betrachters von Sesshus Bildrollen einen Wanderer, erkundet wie dieser den Weg und teilt mit ihm die Offenheit des Horizonts und der Zeit.
Hanspeter Kyburz: Man sieht Felsen und Bäume, einen Weg zwischen den Bäumen, Berge und plötzlich verschwindet der Weg hinter Wolken. Man sieht sich zwei Häusern gegenüber oder vielleicht einem Fluss. Der Weg erscheint wieder, man weiß nicht, woher, und man ergänzt die innere Perspektive des erkundenden Blicks durch die Äußere der interpretierten Geschichte.
Sesshu, der in China Malerei studiert hatte, wird als Begründer der japanischen Zen-Malerei betrachtet. Kyburz: Es ist weniger die Haltung des Zen, die mich beim Schreiben dieses Stückes interessiert, als die virtuose Maltechnik. Sesshu bedient sich eines genau definierten technischen Repertoires, er weiß aus unendlichen Übungen, wie man Hügel, Flüsse, Felsen, Wasser und Wolken malt. Begeistert kombiniert er diese Objekte immer wieder neu und erzeugt ein ,phantastisches Kontinuum, dessen Bildrhythmus den Betrachter nach und nach das Werkganze empfinden lässt.
Kyburz wird in seinem kompositorischen Denken und Handeln stark von der Chaostheorie und der fraktalen Geometrie beeinflusst. Mit Hilfe des Computers berechnet er die Wachstumsvorgänge und überprüft sie akustisch: Am Klavier geht das einfach nicht. Ich müsste das jedes Mal durchspielen. Und vor allem, was dazukommt, wenn man am Klavier was simuliert, arbeitet man selber, man handelt, man ist drin. Man hat genau diese Innenperspektive des Handelnden, der etwas herstellt. Wenn ich am Computer sitze und etwas abspiele, setze ich mich hin und tue so, als würde ich das Stück zum ersten Mal hören. Oder ich mache mir einen Tee und setze mich dann noch mal hin und dann bin ich schon sehr weit weg von demjenigen, der das gemacht hat, das heißt, es kommt einfach als etwas Fremdes auf mich zu. Ich kann es wie ein Objekt beobachten. Und diese beobachtende Außenperspektive auf das Objekt, die ist so enorm wichtig und die geht ganz schnell verloren. Ich möchte nicht, dass der Computer mich ersetzt. Er soll mir nur einen Prototyp zeigen. Das ist eigentlich ähnlich wie bei den Architekten, die haben so ein CAD-Programm. Mit dem können sie durch die Räume laufen und sehen, rechts ist eigentlich ein brasilianischer Marmor oder ein türkischer Marmor und sich dann entscheiden. Und die Treppe? Nein, doch eher Eiche. Das ist für den Architekten nicht der Ersatz für seine Intuition, das ist eher die Hilfe, die Intuition zu präzisieren, aber auch umzulenken. Man ist ja erstaunt über diese Effekte. In Wirklichkeit kann ja niemand voraussehen, was er macht. Der Kalligraph mit seinem Pinsel nicht, der Dirigent bei der Aufführung nicht und der Komponist bei der Instrumentation, bei den Rhythmen, bei der Form eben auch nicht. Ich bin erstaunt über das, was da herüberkommt und dieses Staunen ermöglicht mir, die Intuition umzulenken.
Auf meine Frage Ist die Musik heute so viel komplexer, dass es ohne Computer nicht mehr geht? Ich möchte mal provokativ sagen: Mozart hatte keinen Computer antwortet der Komponist: Völlig richtig. Ich muss auch sagen, ich habe ein sehr ambivalentes Verhältnis zum Computer. Das ist ein Blindenstock, den ich hasse. Ich glaube auch nicht, dass ich ihn ewig brauche, aber es gibt halt immer wieder Fragen, für deren Beantwortung ich ihn notwendig finde. Sagen wir so: Hätte es Computer gegeben, hätte Mozart sie natürlich auch benutzt. Überhaupt keine Frage. Mit links und sehr intelligent. Das Problem ist nicht so sehr, dass man die Hilfsmittel falsch benutzt, sondern dass man sie überbewertet. Das Überbewerten geschieht immer dann, wenn man versucht, Arbeitsschritte an diese Hilfsmittel zu binden, ohne dass man die Alternativen testet. Sagen wir so: Ich bin froh über die Wettervorhersage und bin sicher, auch Mozart wäre froh darüber gewesen.
(Margarete Zander, im Programmbuch des Festivals Ultraschall, Berlin 2007)