Michael Obst (*1955) Nosferatu
Musik zum Stummfilm von Friedrich Wilhelm Murnau [Ens] 2002 Dauer: 93'
Fl(AFl).Klar.B-Klar.Fg(Kfg) – 2Trp.2Pos – Schl – Klav – Vl.Va.Vc.Kb
UA: Paris, Cité de la Musique, 8. Februar 2003
Auftragskomposition des Ensemble InterContemporain/Paris
Inhalt:
1. Akt „... south by south-east“
2. Akt „... die Wiege des Bösen“
3. Akt „... aus dem Reich der Toten“
4. Akt „... Invasion“
5. Akt „... no way out“
Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens
Schon seit mehreren Jahren hatte ich den Wunsch, eine Musik zum Stummfilmklassiker „Nosferatu“ zu komponieren. Hierbei handelt es sich nach Fritz Langs „Doktor Mabuse“ Teil I und II um meine dritte Komposition für Stummfilm, in der ich mich intensiv mit dem Phänomen „Expressionismus im Film“ auseinandersetzte. Schon bei der Komposition der Mabuse-Filme habe ich die direkte emotionale Wirkung beim Betrachter eines Stummfilms mit der eines Hörers von Musik verglichen und dabei festgestellt, dass der Vorgang des Erlebens ganz ähnlichen Gesetzmäßigkeiten zu folgen scheint. Stummfilm und Musik werden über sehr komplexe Erfahrungen vermittelt, wobei im Vergleich zum rationellen Verständnis die Übertragung im emotionalen Bereich oftmals einen viel größeren Raum einnimmt als weithin angenommen wird. Im „Nosferatu“ werden expressionistische Stilmittel zur Darstellung traumatischer Erlebnisse der Hauptdarsteller verwendet. Murnau verknüpft dabei die Dracula-Geschichte von Bram Stoker mit dem Szenario einer deutschen Kleinstadt zur Zeit der Pest. Anders als in den Mabuse-Filmen, die sich der expressionistischen Stilmittel zur Darstellung gesellschaftlicher und damit historischer Szenarien bedienen, ist dies reine Fiktion und hat keinen unmittelbaren Bezug zur Realität. Die Handlung, in der sich eine liebende Frau opfert um ihre Stadt von Blutsaugern und der Pest zu retten, folgt einer Oper nicht unähnlich der Dramaturgie des klassischen Dramas. Sich dieser Vergleichbarkeit zur Musik durchaus bewusst hat Murnau den „Nosferatu“ nicht zu Unrecht „eine Symphonie des Grauens“ im Untertitel bezeichnet.
In meiner künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Film erhielt neben der von Murnau vorgegebenen Idee der Sinfonie (5 Akte = 5 sinfonische Sätze) ebenso die Frage nach der kompositorischen Umsetzung von Grundgedanken des Films Bedeutung. Weitgehend tritt die Funktion der reinen musikalischen Untermalung des Bildes und der Handlung durch Musik in den Hintergrund, ohne sich jedoch der Dramaturgie der vielen Spannungsbögen im Film zu entziehen. Es gibt wie in der Sinfonie mehrere Themen, die den Hauptfiguren zugeordnet sind, aber weniger eine leitmotivischen Verarbeitung entlang der Handlung des Film zur Aufgabe haben als vielmehr ständig in übergeordneten musikalischen Prozessen präsent sind. Dabei erscheinen sie manchmal sehr deutlich, manchmal bis zur Unkenntlichkeit verändert. Dieses kompositorische Prinzip entspricht dem des Filmes, der mehrere Grundthemen wie zum Beispiel die Liebesbeziehung zwischen den beiden Hauptdarstellern oder den Wahnsinn des Kaufmanns „Krock“ beim Zuschauer als ständig vorhandene Gegebenheit im Bewusstsein hält. Nosferatu, der Vampir, hat kein musikalisches Thema, da er als „Untoter“ keine Musik kennt. Ein weiterer wesentlicher Inhalt des Films ist die allmähliche Veränderung vom vermeintlich Realen ins Surreale. Diese übergeordnete Idee findet ihre Entsprechung in der Musik dadurch, dass allmählich immer mehr Klangeffekte der Instrumente Dominanz erhalten. Hier werden typische Spieltechniken der Neuen Musik gleichgesetzt mit der Idee des Surrealen, der Idee des Traumhaften. Im Sinne der Sinfonie und im Sinne der Konzeption des Films findet im 5. Akt und damit im 5. Satz der Höhepunkt und die Lösung des Films und in der Musik parallel dazu die Synthese des bis dahin vorgestellten kompositorischen Materials statt.
Technische Hinweise
Die Komposition entstand zur kolorierten Version der von der Cineteca del Comune die Bologna restaurierten Fassung des Films. Eine Kopie des Films, die speziell für Aufführungen mit dieser Komposition angefertigt wurde, kann bei der Murnau-Stiftung (via Transit Film) bestellt werden (sie befindet sich bis August 2005 in der Cinemathèque Française). Nähere Informationen sind bei Breitkopf & Härtel oder beim Ensemble InterContemporain erhältlich.
Der Film muss mit 18 Bildern pro Sekunde gezeigt werden.
Die Synchronisation der Musik zum Film wird durch ein Notensystem über den Instrumenten in der Partitur erreicht. In traditioneller Notenschrift sind zusammen mit einer kurzen Beschreibung Bildschnitte über der Zeile und wichtige Ereignisse im Bild unter der Zeile in Notenwerten und Pausen dargestellt. Mit dieser Notationstechnik ist es möglich, das Tempo der Musik mit dem zeitlichen Ablauf des Films weitgehend exakt zusammenzuführen. Zusätzlich ist über den Bildschnitten der jeweilige Timecode einer VHS-Kassettenkopie des Films angeführt, die zur Orientierung dienen kann. Die VHS-Kassette mit dem Timecode kann bei Breitkopf & Härtel ausgeliehen werden.
Grundsätzlich ist eine Aufführung des Films ohne Timecode möglich. Soll eine mit Timecode unterstützte Synchronisation vorgenommen werden, so ist dies nur mit der oben erwähnten VHS-Kassette möglich, da sich die in der Partitur angeführten Zeiten auf diese Kopie des Films beziehen. Um Zeitgleichheit zwischen der VHS-Kopie und der Filmprojektion zu erreichen, muss der Filmvorführer die Geschwindigkeit des Films mit Hilfe eines stufenlos regelbaren Filmprojektors der Geschwindigkeit der VHS-Kopie anpassen. Diese gilt als Synchronisations-Master und wird sowohl dem Dirigenten als auch dem Filmvorführer über Fernsehmonitore zugespielt.
Es muss aber darauf hingewiesen werden, dass die in der Partitur angegebenen Zeiten des Timecodes in Verbindung mit dem Film häufig nicht so genau darstellbar waren, wie die musikalische Notation verbunden mit dem jeweiligen Tempo. Diese ist viel genauer und natürlich auch viel musikalischer empfunden. Ich empfehle daher, die Synchronisation der Musik zum Film in erster Linie mit Hilfe der musikalischen Notation vorzunehmen.
Michael Obst, November 2002