Martin Smolka (*1959) Like those Nicéan barks of yore
[Pos,Live-Elektr.] 2001 Dauer: 14'
Uraufführung: Donaueschingen (Donaueschinger Musiktage), 20. Oktober 2001
20 Seiten | 23 x 30,5 cm | 94 g | ISMN: 979-0-004-18256-7 | Mappe
Der Titel der Komposition ist einem Gedicht Edgar Allan Poes entnommen
An Helen
Deine Schönheit, Helen, sie gleicht für mich
der nikäischen Barke mit stolzem Bug,
die einst sanft über duftende Seen strich
und weg-wunden Wanderer gleichwie im Flug
ans Heimatgestade trug.
Von lange durchirrter Meere Gefahr
dein klassisches Antlitz mich heimwärts wies,
Najade, dein hyazinthenes Haar,
zu der Glorie, die Hellas hieß,
und der Größe, die Rom einst war.
Sieh! auf der prächtigen Galerie
stehst du, wie je nur ein Standbild stand,
die achatene Lampe in marmorner Hand!
Ah, Psyche, aus Regionen, die
sind heiliges Land!
(Übersetzung nach: Edgar Allan Poe, Das gesamte Werk in zehn Bänden, hrsg. von Kuno Schumann und Hans Dieter Müller, Olten 1966)
Meine kompositorische Erfahrung, oder besser: meine Erfahrung mit musikalischer Kreativität, war immer eng an Dichtung gebunden. Dichtung, wegen ihrer Fähigkeit, gewissermaßen die Fragilität einer Spinne in die Hände zu nehmen. Daher klangen Begriffe wie "Material" und "Experiment" für mich zu technisch, zu unemotional; sie erzeugten einen Geschmack von Metallschrauben auf meiner Zunge. Das hat sich geändert. Heute hat aus meiner Sicht "Experiment" einen Geruch der goldenen Zeiten, der sechziger Jahre, als die Zukunft faszinierend und vielversprechend war. Überdies kenne ich die musikalischen Sechziger bloß vom Plattenhören, Bücherlesen oder aus den Erinnerungen älterer Komponisten, was das romantische Gefühl der Nostalgie noch verstärkt. "Experiment" hat das Gebiet der Dichtung erreicht.
Einmal machte ich den Versuch, ein Stück zu schreiben (Music for retuned orchestra), in dem ich "Experiment" in diesem Sinne betrachtete, mit für die sechziger Jahre typischen Klängen hantierte, so wie jemand in einem Second-Hand-Laden rußgeschwärzte Öllampen in die Hand nimmt.
Das neue Stück ist ebenfalls in gewisser Hinsicht "Musik über Musik". Meine Hauptelemente (meine Steine und mein Mörtel, mein Töpferton, mein Teig, mein Spinnfaden; aber niemals Material) waren:
- langer Ton, der gleichzeitig liegt und pulsiert (wie ein Meer) - Echo, das Töne in Akkorde sammelt, zumeist verschiedene Formen von unvollständigen Nonen- und Septakkorden (Melancholie, Nostalgie), die auch als schwebende Akkorde aufgefasst werden können (Sehnsucht).
Ist nicht das Echo eine Erinnerung an Klang, der nicht mehr existiert? Es gibt eine ganze Kette von Erinnerungen, von Rückblicken in die Geschichte in diesem Stück: Solo-Posaune und elektronische Mittel (= heute mag der Gebrauch eines einfachen Echos längst ‘old fashioned’ klingen) -> -> Nonen- und Septakkorde, übermäßiger Gebrauch von latenten Schwebungen (= musikalische Mittel der Sezession, derjenigen Zeit, in der Poe häufig in meine Muttersprache übersetzt wurde) -> -> das Gedicht To Helen von Edgar Allan Poe -> -> Homers Odyssee. Schließlich ist ein wesentlicher Anachronismus des Stückes sein Zeitgefühl: langsam und noch verlangsamend. Setz Dich bequem, lieber Hörer.
Martin Smolka
Übersetzung aus dem Englischen: Lydia Jeschke