Misato Mochizuki (*1969) Noos
[Orch] 2001 Dauer: 19'
3(Picc).3(Eh).2.B-Klar.A-Sax.2.Kfg – 4.3.3(B-Pos).1. – Schl(5) – Klav – Hfe – Str 14.12.10.8.6.
UA: Köln (Musik der Zeit), 30. November 2001
In „Noos“ (griech. „nus“ gleich „Geist“) bezieht sich die in Paris lebende Japanerin Mochizuki, die bei Paul Méfano und Emmanuel Nunes studiert hat und die mit ihren Debüts bei den „Wittener Tagen für neue Kammermusik“ (1998) und den „Donaueschinger Musiktagen“ (1999) für einiges Aufsehen gesorgt hat, auf Reflexionen des französischen Theologen Pierre Teilhard de Chardin (1881-1955).
Misato Mochizuki: „Er führt in seinen Schriften den Begriff einer ‚Noossphäre‘, einer Sphäre des Geistigen, ein, um dem Menschen einen evolutionstheoretisch logischen Platz in der Erdgeschichte zuzuweisen. Die Noossphäre entsteht aus der Biosphäre, d. h. der Sphäre des Lebens, die ihrerseits chemisch aus den Sphären hervorgeht, aus denen die Erde besteht: der Barysphäre bzw. dem metallischen Kern (Feuer), der Lithosphäre bzw. dem Gesteinsuntergrund (Erde), der Hydrosphäre bzw. dem Wassermantel (Wasser) sowie der Atmosphäre bzw. Gashülle (Luft). Diese Sphären unterscheiden sich voneinander durch ihre Partikel: Das Atom bzw. die chemischen Elemente sind Partikel der unbelebten Materie, die lebende Zelle ist ein Lebenspartikel, aus dem die Biosphäre besteht, und kommt in gleicher Form bei Pflanzen und Tieren vor, und die Menschen sind Partikel einer neuen Lebensform, nämlich geistige Partikel der Noossphäre. Jede dieser Etappen bedeutet ein neues Komplexerwerden von Materie, das sich durch Reproduktion und Zusammenschluss gleichartiger Einheiten bis ins Unendliche fortsetzen und diversifizieren lässt (vom Atom über die Zelle bis hin zum Menschen). Die Geschichte menschlicher Gesellschaften liest sich denn auch aus biologischer Sicht wie eine Abfolge von Versuchen der ‚Molekularisierung‘ elementarer geistiger Einheiten: Stämme, Nationen, Geistesgemeinschaften. Im Laufe der Besiedlung der Erdoberfläche durch den Menschen bildet die Noossphäre ihre Kommunikationsnetze (Straßen, Satelliten, Internet) und Macht- und Entscheidungszentren (Religionen, Staaten, Wirtschaftslobbys) aus. Die Menschheit ist ein umfassendes Netz des Austauschs (von Waren, Menschen, Ideen, ...), ähnlich einem gigantischen Gehirn, dessen einzelne Neuronen wir, die einzelnen Menschen sind. Ideen entstehen, Informationen verbreiten sich wie Nervenimpulse, und ihre Bewegung beschleunigt sich vor unseren Augen.“
Dieser theoretische Hintergrund bildet die reflektorische Matrix von Mochizukis Orchesterkomposition Noos, in der sie - wie schon in früheren Arbeiten - gewissen musikalischen Partikeln besondere Aufmerksamkeit schenkt, vor allem den instrumentalen Klangfarben und dem Rhythmus. Das einsätzige, nach vorne treibende, farbig schillernde, mitunter glitzernde Werk ist geprägt von einer Kette kleiner und kleinster rhythmischer Impulse, die nicht abreißt. In Gang gebracht löst diese, auch in sich verändernde Kette etliche neue Partikel aus, ähnlich einem riesigen Domino-Spiel, bei dem, wenn ein Stein gefallen ist, ein nicht mehr zu stoppender Prozess von weiter fallenden Steinen ausgelöst sind. Natürlich nur dann, wenn die Abstände zwischen ihnen bei der Installation zuvor genau eingehalten wurden. In „Noos“ ist das auf musikalischer Ebene der Fall. Der scheinbar aus dem Nichts herkommende Ausgangsimpuls driftet in die verschiedensten Richtungen des Klangraums, formiert sich hier zu einer Gestalt eines bestimmten Timbres, und setzt gleichzeitig an einem anderen Ort ein anderes Farbgeschehen frei. Tausende von Klangpartikeln schwirren durch die Atmosphäre, laden den Konzertsaal mit energetischen Impulsen auf, obgleich Noos nur der Ausschnitt aus einem immerwährenden Kontinuum zu sein scheint. Ins ewige Nichts, aus dem es zu kommen scheint, verschwindet es auch wieder.
Stefan Fricke (2001)