Hans Zender (1936–2019) Mnemosyne
Hölderlin lesen IV [FSingst,2Vl,Va,Vc,Elektr ad lib.] 2000 Dauer: 40'
Uraufführung: Witten (Wittener Tage für neue Kammermusik), 4. Mai 2001
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Friedrich Hölderlin
Mnemosyne
Ein Zeichen sind wir, deutungslos,
Schmerzlos sind wir und haben fast
Die Sprache in der Fremde verloren.
Wenn nämlich über Menschen
Ein Streit ist an dem Himmel und gewaltig
Die Monde gehn, so redet
Das Meer auch und Ströme müssen
Den Pfad sich suchen. Zweifellos
Ist aber Einer, der
Kann täglich es ändern. Kaum bedarf er
Gesetz. Und es tönet das Blatt und Eichbäume wehn dann neben
Den Firnen. Denn nicht vermögen
Die Himmlischen alles. Nämlich es reichen
Die Sterblichen eh an den Abgrund. Also wendet es sich, das Echo,
Mit diesen. Lang ist
Die Zeit, es ereignet sich aber
Das Wahre.
Wie aber Liebes? Sonnenschein
Am Boden sehen wir und trockenen Staub
Und heimatlich die Schatten der Wälder und es blühet
An Dächern der Rauch, bei alter Krone
Der Türme, friedsam; gut sind nämlich,
Hat gegenredend die Seele
Ein Himmlisches verwundet, die Tageszeichen.
Denn Schnee, wie Maienblumen
Das Edelmütige, wo
Es seie, bedeutend, glänzet auf
Der grünen Wiese
Der Alpen, hälftig, da, vom Kreuze redend, das
Gesetzt ist unterwegs einmal
Gestorbenen, auf hoher Straß
Ein Wandersmann geht zornig
Fern ahnend mit
Dem andern, aber was ist dies?
Am Feigenbaum ist mein
Achilles mir gestorben,
Und Ajax liegt
An den Grotten der See,
An Bächen, benachbart dem Skamandros.
An Schläfen Sausen einst, nach
Der unbewegten Salamis steter
Gewohnheit, in der Fremd, ist groß
Ajax gestorben,
Patroklos aber in des Königes Harnisch. Und es starben
Noch andere viel. Am Kithäron aber lag
Eleutherä, der Mnemosyne Stadt. Der auch, als
Ablegte den Mantel Gott, das Abendliche nachher löste
Die Locken. Himmlische nämlich sind
Unwillig, wenn einer nicht die Seele schonend sich
Zusammengenommen, aber er muss doch; dem
Gleich fehlet die Trauer
In meinen Hölderlin lesen-Stücken ging es mir darum, Wege zu finden,
die gewaltigen Sprachstrukturen Hölderlins so in die zeitliche Form der
Musik zu integrieren, dass sie Funktionen der musikalischen Form
übernehmen, ohne in ihrer Eigenkraft (sowohl akustisch wie auch im
Sinne expressiver „Deutung“) im geringsten geschmälert zu werden. Das
hieß zunächst: Sprechen, nicht singen! - Aber das würde nur bedeuten,
dass es nicht um die Musikalisierung von Text geht; ebenso wichtig ist
es, dass es auch nicht um melodramatisch „erzählende“ Musik geht.
Sondern: Zwei autonome Künste durchdringen sich auf diaphane Weise,
ohne sich zu überformen oder auszulöschen; es handelt sich um einen
Dialog, nicht um eine Vereinnahmung durch Hierarchisierung.
Sind wir uns selbst zu einem „Zeichen...deutungslos“ geworden, wie es Hölderlins Anfangszeilen sagen, so erscheinen auch die Zeichen, die wir selber setzen, sich immer mehr einer Deutbarkeit zu entziehen. Mein Stück, das den vollständigen Text von Hölderlins Mnemosyne integriert, stellt auf seine Weise die Frage nach dem „Zeichen“. „Was ist dies“? Klang? Wort? Schrift? Wie sind die Grenzen, die Übergänge, die gegenseitigen Beeinflussungen der einzelnen Zeichenregionen? Was liegt ihnen zugrunde?
Worte und musikalische Zeichen bewegen sich im Medium der Zeit; Schriftzeichen erscheinen zunächst als Verräumlichung, aber man muss daran erinnern, dass der Vorgang des Schreibens - wie er in der ostasiatischen Kalligraphie zu höchster Kunst entwickelt wurde - auch zeitlichen Charakter hat. Mnemosyne - die Kraft des Sich-Erinnerns - schafft die Zeichen, indem sie Gestalten durch Wiederholung fixiert und so aus dem endlosen Fluss der wahrgenommenen Vorgänge herauslöst. Die so entstehende artikulierte Zeit schafft wiederum durch das Wechselspiel von fixierten und sich bewegenden Gestalten das Bewusstsein für differenzierte Formabläufe.
Der Formverlauf meines Stückes zeichnet solche genetischen Prozesse nach. Der Hörer wird schnell merken, dass die Wortzeichen oft einer zuerst erscheinenden musikalischen Klangwelt entspringen (ich stimme Walter Benjamin zu, wenn er sagt, dass die Sprache in ihrer grundlegenden Schicht expressiven - und nicht darstellenden - Charakter hat). Die Schrift auf der Leinwand folgt zunächst den sprachlichen Aktionen der Stimme, erhält dann aber auch eigene Teile der Form zugeteilt, in der sie sich als autonomes Zeichen darstellt. In der durch die drei Strophen Hölderlins notwendigerweise dreiteiligen Gesamtform gibt es immer wieder Abschnitte, in denen entweder das musikalische Geschehen oder die Sprachzeichen des Gedichtes oder das Sich-Schreiben der Schrift im Vordergrund stehen; der Komponist versteht sich also hier auch als „Zusammensetzer“ der in unserer Wahrnehmung so verschieden besetzten Zeiten des Schreibens, Sprechens und Musikhörens. Es bilden sich im Verlauf des 40-minütigen Stückes auch Grenzfälle, wie „stumme“ Musik oder total musikalisierte - ihrer Verstehbarkeit beraubte - Textrezitation. Auch das Singen von Text - in meinen bisherigen Hölderlinstücken strikt vermieden - wird als äußerste Möglichkeit gegen Ende des formalen Prozesses zugelassen.
An einigen Stellen zeigt die Musik sozusagen direkt auf sich selbst. Es sind Formzustände, die ich in meinem „Shir Hashirim“ als „Koan“ bezeichnet habe: „endlose“ Wiederholungen einer zeichenhaften Konstellation, bei jeder Wiederholung minimal verändert - so wie ein Kalligraph sein Schriftzeichen bei jedem Malvorgang unwillkürlich verändert und neu schafft. Steht im ersten Teil der Großform der Aspekt des Abstrakten, des Unsinnlichen im Vordergrund, so wird im zweiten Teil Bildhaftigkeit als Eigenschaft nicht nur der Sprache, sondern auch der Musik betont: die Landschaft, halb schnee - halb blütenbedeckt, die der Wanderer „zornig“ durchstreift. Am Ende dieses Teils wird das Schriftbild selber zur Landschaft, die der Leser/Hörer durchwandert. Er wird im dritten Teil durch einen Verwandlungsprozess zu den ekstatischen Ursprüngen des hölderlinschen Dichtens geführt, und damit zur explizit musikalischen Ebene: Die Totenklage um Hektor und Ajax wird zum „dithyrambischen“ Tanz, wie es Hölderlins Schlusszeile entwirft: „... darum fehlet die Trauer.“
Es bleibt noch nachzutragen, dass ich den in der Stuttgarter Ausgabe der Werke Hölderlins in drei Versionen abgedruckten Text in einer Mischversion verwendet habe: die erste Strophe aus der 2. Fassung, die zweite mit Abweichungen und Widersprüchen aus allen drei Fassungen, und die dritte Strophe aus der 3. Fassung.
(Hans Zender)
CD:
Salome Kammer (Stimme), Klangforum Wien, Ltg. Hans Zender
Kairos 0012522KAI
Bibliografie:
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Fuhrmann, Wolfgang: Zender lesen. Die Frage nach dem Zeichen in „Mnemosyne“, in: „Ein Zeichen sind wir, deutungslos“. Hölderlin lesen, Ikkyu Sojun hören, Musik denken, hrsg. von Violetta L. Waibel, Göttingen: Wallstein 2020, S. 194-211
Prägungen im Pluralismus. Hans Zender im Gespräch mit Jörn Peter Hiekel, in: Orientierungen. Wege im Pluralismus der Gegenwartsmusik, hrsg. von Jörn Peter Hiekel (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Band 47), Mainz u. a.: Schott 2007, S. 130-137.
Mosch, Ulrich: Ultrachromatik und Mikrotonalität. Hans Zenders Grundlegung einer neuen Harmonik, in: Hans Zender. Vielstimmig in sich, hrsg. von Werner Grünzweig, Jörn Peter Hiekel und Anouk Jeschke (= Archive zur Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, Band 12), Hofheim: Wolke 2008, S. 61-76.
Schmidt, Dörte: Erfahrung und Erinnerung. Kompositorisches Material zwischen Klang und Bedeutung in der Kammermusik des späten 20. Jahrhunderts, in: Mnemosyne. Zeit und Gedächtnis in der europäischen Musik des ausgehenden 20. Jahrhunderts, hrsg. von Dorothea Redepenning und Joachim Steinheuer, Saarbrücken: Pfau 2006, S. 41-58.
Zenck, Martin: Hölderlin lesen – seiner „Stimme“ zuhören. Hölderlin-Lektüren von Klaus Michael Grüber, Hans Zender und Bruno Ganz, in: Neue Zeitschrift für Musik 172 (2011), Heft 6, S. 25-29.
Zender, Hans: Zu meinem Zyklus „Hölderlin lesen“, in: Mnemosyne. Zeit und Gedächtnis in der europäischen Musik des ausgehenden 20. Jahrhunderts, hrsg. von Dorothea Redepenning und Joachim Steinheuer, Saarbrücken: Pfau 2006, S. 26-40.