Martin Smolka (*1959) Walden, the Distiller of Celestial Dews
5 Stücke [GCh,Schl] 2000 Dauer: 22' Text: Henry David Thoreau
8S8A8T8B – Schl
Uraufführung: Donaueschingen (Donaueschinger Musiktage), 22. Oktober 2000
Ich wurde gefragt, ob ich zum Thema „Gewalt in unserer Gesellschaft“ (im weitesten Sinne) ein Chorstück schreiben wolle. Aber mich berührte eher die Gewalt, die unsere Gesellschaft aussendet - gegen die Natur, gegen unseren Heimatplaneten. Und ich zog es vor, in meiner Musik positiv zu sein, statt eine Art Protestsong zu komponieren.
In der Absicht, über die Schönheit der reinen Natur zu singen, entschloss ich mich, Textausschnitte aus Thoreaus „Walden“ zu verwenden. Dieses Buch hat mich seit Jahren fasziniert, besonders durch die überraschende Koexistenz sehr poetischer Naturbeschreibungen einerseits und ganz praktischer Spezifikationen von Thoreaus Leben in den Wäldern und sogar dessen Kosten andererseits.
Als ich das Buch nach Textausschnitten durchblätterte, fand ich heraus, dass es viele weitere Dimensionen hat:
„Das Geheimnis der Existenz“
Thoreau tendiert dazu, alle vorstellbaren Fakten mit den grundsätzlichen Fragen der Existenz in Verbindung zu bringen, Fragen zum Universum, zur Religion usw., indem er häufig antike Autoren, die Bibel, Konfuzius und andere Vertreter der östlichen Philosophie zitiert und sich darin gefällt, die Tradition der nordamerikanischen Indianer zu erwähnen. Diesen Aspekt verdeutlicht das Chorstück zu Beginn und gegen Ende des zweiten Satzes („Lake Walden is earth's eye“), im letzten Satz („meditation on freedom“) und im ersten Satz („Pleiades“):
„I discovered that my house actually had its site near to the Pleiades or the Hyades, to Aldebaran or Altair, dwindled and twinklin with as fine a ray to my nearest neighbour, and to be seen only in moonless nights by him.“
„Ich entdeckte, dass mein Haus wirklich in der Nähe der Plejaden oder Hyaden bei Alderbaran oder Altair lag, und ein ebenso feiner Strahl wie von dort blitzte und glitzerte zu meinem Nachbarn hinüber und konnte nur in mondlosen Nächten von ihm gesehen werden.“
(Ich habe Thoreaus Sätze häufig auseinandergebrochen und nur kurze Fragmente benutzt, um das musikalische Material zu limitieren und um der Imagination des Hörers nur kurze Impulse zu geben - sowieso versteht man nie mehr als ein paar einzelne Worte in gesungener Musik. Hier zitiere ich die Ausschnitte vollständig, indem ich auch Worte wiedergebe, die in der Musik nicht verwendet werden.)
„Grüne Wiesen aus Wort-Klängen“
In seinen Beschreibungen der Schönheit von Seen und Wäldern arbeitet Thoreau sehr musikalisch mit der englischen Sprache. Ganze Sätze geraten unter die Vorherrschaft von ein oder zwei Klängen, was den beschriebenen Eindruck mit unerwarteter Intensität hervorruft. Ein Satz ist voller Zischlaute, ein anderer voller weicher Bs, Ls und Ms und wieder ein anderer klingelt mit vielen Rs. Dieser Aspekt war der Ausgangspunkt des zweiten Chorstücks „Lake“:
„A lake is the landscape's most beautiful and expressive feature. It is earth's eye: looking into which the beholder measures the depth of his own nature. The fluvatile trees next the shore are the slender eyelashes which fringe it, and the wooded hills and cliffs around are its overhanging brows.
If you survey its surface, it is as smooth as glass, except where the skater insects scatered over its whole extent, by their motions in the sun produce the finest imaginable sparkle on it, or, a swallow skims so low as to touch it. It may be that in the distance a fish describes an arc of three or four feet in the air, and there is one bright flash where it emerges, and another where it strikes the water: sometimes the whole silvery arc is revealed; or here and there, perhaps, is a twistle-down floating on its surface, which the fishes dart at and so dimple it again. It is like molten glass cooled but not congealed and the few motes in it are pure and beautiful like the imperfections in glass.“
„Ein See ist der schönste und ausdrucksvollste Zug einer Landschaft. Er ist das Auge der Erde. Wer hineinblickt, ermisst an ihm die Tiefe seiner eigenen Natur. Die Bäume dicht am Ufer, welche sein Wasser saugen und in ihm zerfließen, sind die schlanken Wimpern, die es umsäumen, und die waldigen Hügel und Felsen die Augenbrauen, die es überschatten. Betrachtet man aufmerksam die Oberfläche, so zeigt sich, dass sie so glatt wie Glas ist, ausgenommen dort, wo die über die ganze Seeausdehnung zerstreuten Wasserläuferinsekten durch ihre Bewegungen in der Sonne die denkbar feinsten Glitzerfunken hervorbringen oder eine Schwalbe tief genug herunterstreift, um das Wasser zu berühren. Hie und da beschreibt drüben ein Fisch einen Bogen von drei bis vier Fuß durch die Luft, und ein blendender Blitz zuckt auf, wo er herauskam, und dort, wo er wieder das Wasser traf; manchmal ist der ganze silberne Bogen zu sehen; oder hier und dort schwimmt ein Stück Distelwolle, nach dem die Fische schnappen, um so die Oberfläche wieder aufglitzern zu lassen. Der See sieht aus wie geschmolzenes, kühles, aber nicht erstarrtes Glas, und die Stäubchen darin sind rein und schön wie die Bläschen im Glas.“
(Der Eindruck der Wasserläuferinsekten wird nur durch die Musik wiedergegeben („tippy, tippy“ usw.), ohne dass die Worte gesungen werden).
„Mutter Erde und Vater Hast“
Der onomatopoetische Aspekt wird am deutlichsten in den Passagen für Männerchor im vierten Satz „Blackberries“. Während der Frauenchor ruhig von den Pflanzen und Früchten des Waldes singt, durchbricht der Männerchor diesen Gesang mit hektischer Aktivität, indem er das Bohnenpflanzen auf einem gerade urbar gemachten Feld beschreibt.
„My beans attached me to the earth, and so I got strength like Antaeus. This was my curious labor all summer - to make this portion of the earth's surface, which had yielded only ciquefoil, blackberries, johnswort, and the like, before, sweet wild fruits and pleasent flowers, produce instead this pulse.
Removing the weeds, putting frest soil about the bean stems, and encouraging this weed which I had sown, making the yellow soil express its summer thought in bean leaves and blossoms rather than in wormwood and piper millet grass, making the earth say beans instead of grass, - this was my daily work.“
„Meine Bohnen banden mich an die Erde, und so empfing ich Kraft wie Antäus. Es war den ganzen Sommer durch meine sonderbare Beschäftigung, diesen Teil der Erdoberfläche, der bisher nur Fünfblattklee, Brombeeren, Johanniskraut und wildwachsende Beeren und zierliche Blumen hervorgebracht hatte, zu zwingen, jetzt diese Hülsenfrucht zu tragen.
Das Unkraut auszujäten, frische Erde um die Bohnenpflanzen zu häufeln und das Kraut, das ich gepflanzt hatte, zum Wachsen aufzumuntern, den gelben Boden zu veranlassen, seinen sommerlichen Gedanken in Bohnenblättern und Blüten statt in Wermut, Pfeifenkraut und Hirsegras Ausdruck zu verleihen, die Erde Bohnen sprießen zu lassen statt Gras - das war meine tägliche Arbeit.“
Es ist interessant, dass Thoreau Mitte des 19. Jahrhunderts die Hast der modernen Zivilisation kritisiert: „Warum sollten wir mit einer solchen Hast leben und Leben vergeuden? ... Wir haben den Veitstanz und können unsere Köpfe nicht still halten.“
Thoreaus Hauptintention am Waldensee war, bescheiden zu leben, nur ein wenig Zeit für den Lebensunterhalt zu opfern (zwei Stunden täglich seien genug, fand er) und so frei zu sein, „um den Geheimnissen der Dinge nachzugehen.“ Unglücklicherweise hatte ich in meinem Stück keinen Platz mehr für diese Schlüssel-Metapher:
„Time is but the stream I go a-fishing in. I drink at it; but while I drink I see the sandy bottom and detect how shallow it is. Its thin current slides away, but eternity remains. I would drink deeper; fish in the sky, whose bottom is pebbly with stars.“
„Die Zeit ist nur ein Fluss, in dem ich fischen will. Ich trinke daraus, aber während ich trinke, sehe ich seinen sandigen Grund und entdecke, wie seicht er ist. Seine schwache Strömung verläuft, aber die Ewigkeit bleibt. Ich möchte in tieferen Zügen trinken, im Himmel fischen, dessen Grund voll Kieselsterne liegt.“
Was ist Freiheit?
Teil 5, „Cypress“, basiert auf Thoreaus Zitat de persischen Dichters Scheich Saadi von Schiras:
„They asked a wise man, saying: Of the many celebrated trees which the Most High God has created loftly and umbrageous, they call none azad, or free, excepting the cypress, which bears no fruit: what a mystery is there in this? He replied: Each has its appropriate produce, and appointed season, during the continuance of which it is fresh and blooming, and during their absence dry and withered; to neither of which states is the cypress exposed, being always flourishing; and of this nature are the azads, or religious independents. - Fix not thy heart on that which is transitory; for the Dijlah or Tigris, will continue to flow through Bagdad after the race of caliphs is extinct: if thy hand has plenty, be liberal as the date tree: but if it affords nothing to give away, be an azad, or free man, like the cypress.“
„Sie fragten einen weisen alten Mann und sprachen: Von den vielen herrlichen Bäumen, die der höchste Gott hoch und schattenspendend erschaffen hat, wird keiner azad oder frei genannt außer der Zypresse, die keine Früchte trägt. Was für ein Geheimnis ist das? Er antwortete: Jeder hat seinen eigenen Ertrag und seine Zeit, während der er frisch und blühend dasteht, und wenn sie vergangen ist, trocknet er und welkt; nicht so ergeht es der Zypresse, die immerwährend grünt; von dieser Art sind die Azads, die religiös Unabhängigen. - Hänge nicht dein Herz an das, was vergeht; denn der Dijlah oder Tigris wird noch durch Bagdad fließen, nachdem der Stamm der Kalifen erloschen ist. Ist deine Hand voll, so sei freigebig wie der Dattelbaum, besitzt sie aber nichts zum Verschenken, so sei ein Azad, ein freier Mann, wie die Zypresse frei ist.“
„Gewalt und symphonische Steigerung“
Das Werk enthält eine schöne Paradoxie, die darin liegt, dass, obwohl ich nicht vorhatte, die Gewalt von Menschen gegen Menschen zu reflektieren, der erste Textausschnitt von Thoreau, der mich musikalisch inspirierte, so dass ich den ganzen Satz ziemlich schnell komponierte, die Geschichte der Gewalt par excellence erzählt. In diesem dritten Teil „Jesuits“ kommt noch ein anderer Aspekt in Thoreaus Schreiben zur Sprache: an manchen Stellen erregt er sich so sehr, dass sein Pathos wie in einer symphonischen Steigerung wächst.
„The Jesuits were quite balked by those Indians who, being burned at the stake, suggested new modes of torture to their tormentors. Being superior to any consolation which the missionars could offer; and the law to do as you would be done by fell with less persuasiveness on the ears of those who, for their part, did not care how they were done by, who loved their enemies after a new fashion, and came very near freely forgiving them all they did.“
„Die Jesuiten wurden ganz beschämt durch jene Indianer, welche, als sie am Pfahle verbrannt wurden, ihren Folterknechten neue Folterqualen vorschlugen. Da sie über physisches Leiden erhaben waren, kam es manchmal vor, dass sie auch über jede Tröstung erhaben waren, welche ihnen die Missionare zu bieten hatten; und das Gesetz, welches gebietet, das zu tun, was man wünscht, dass einem selbst getan werde, berührte mit weniger Überzeugungskraft die Ohren derjenigen, denen es einerlei war, was man ihnen tat, die ihre Feinde auf eine neue Weise liebten und nicht weit davon entfernt waren, ihnen alles, was sie taten, zu vergeben.“
Ich finde es natürlich, dass ich, wenn ich ein Manifest über eine vereinfachte Lebensweise schreibe und über die Rückkehr zur Natur und zu den Wurzeln des Menschseins, auch eine vereinfachte musikalische Sprache verwende und zu diatonischen Melodien und regelmäßigen Rhythmen ebenso wie zu konsonanten Harmonien zurückkehre. Die einzige verfeinerte Technik, die ich verwendet habe, sind die Verstimmungen der Moll- oder Durdreiklänge um Viertel- und Sechsteltöne. Die Absicht liegt hier wiederum in einem Rückwärtsschritt - zu jener speziellen Expressivität, die diese verstimmten Dreiklänge im Blues besaßen oder in anderer authentischer Volksmusik, die nicht von Noten gespielt wurde.
Erlauben Sie mir, zum Schluss ein letztes Zitat (bzw. eher eine Paraphrase). Als ich die Arbeit an „Walden, the Distiller of Celestial Dews“ (auch der Titel besteht aus Ausdrücken Thoreaus) beinahe beendet hatte, fiel mir ein Buch von Julio Cortazar in die Hände. Darin fand ich eine passende Beschreibung für das, was ich tat: „Wenn sie in eine bukolische Ohnmacht fallen, lügten die zivilisierten Menschen: wenn sie nicht abends um halb acht ihren Scotch on the rocks kriegen, verfluchen sie den Augenblick, in dem sie ihr Haus verlassen haben, um unter Viehbremsen, brütender Hitze und Sonnenstich und Dornen und Stacheln zu leiden.“
Martin Smolka
(Übersetzung aus dem Englischen: Lydia Jeschke)
CDs:
Meinhard Jenne (Schlagzeug), SWR-Vokalensemble Stuttgart, Ltg. Rupert Huber
CD col legno WWE 4CD 20201 („Donaueschinger Musiktage 2000“)
Chor des Bayerischen Rundfunks, Ltg. Peter Eötvös
CD NEOS, 10705
Bibliografie:
Meyer, Thomas: Eine Ästhetik des Wunderlichen. Zur Chormusik von Martin Smolka, in: Martin Smolka, hrsg. von Ulrich Tadday (= Musik-Konzepte 191), München: edition text + kritik 2021, S. 59-77
Schulz, Reinhard: Ein Manifest des einfachen Lebens. Zu Martin Smolkas „Walden, the Distiller of Celestial Dews“ (2000), in: Programmheft musica viva-Konzert 26. 1. 2006, S. 10-13.
1. Pleiades |
2. Lake |
3. Indians |
4. Blackberries |
5. Cypress |