Hanspeter Kyburz (*1960) Klavierkonzert
[Klav,Orch(Ens)] 1999/2000/2010 Dauer: 23'
Solo: Klav. – 2(2A-Fl).2.2.2. – 4.2.2.1. – Schl(4) – Hfe – Cel – Klav – Str (2-2-2-2.4.4.2)
UA des Satzes 1 und 2: Berlin, 28. Januar 2000
UA des Gesamtwerks: Köln, 26. Februar 2000
Die Scheibe und der Flügel.
Die Gattungstradition des Klavierkonzerts hat bis heute wie kaum eine andere Rahmendefinitionen, formale Charakteristika und Zusammenhänge im musikalischen Denken etabliert: Die symmetrische Gesamtform, das Soli-Tutti-Verhältnis, Eröffnungsgesten und retardierende Momente sowie die Kadenz als Höhepunkt der solistischen Entfaltung - das sind nur einige Aspekte, die sich über die historischen Etappen der Konzertgeschichte hinweg eingeprägt haben. Hanspeter Kyburz knüpft in der Formanlage seines Klavierkonzerts zunächst bewusst an diese Konventionen an: Das Konzert besteht aus drei Sätzen im Ablauf schnell - langsam - schnell. Die Gesamtform ist in ihrer Symmetrie durch den Bau der einzelnen Teile betont. Elemente des ersten Satzes tauchen im Schlusssatz wieder auf, und der zentrale mittlere Satz trägt in sich auch noch einmal symmetrische Merkmale. Am Ende des dritten Satzes, wo sonst die Coda steht, kommt plötzlich eine Kadenz. Sie ist nicht wirklich integraler Bestandteil der Formdynamik, sondern gleicht einem überflüssigen Epilog. Das Stück ist nur scheinbar zu Ende, der Solist zeigt erneut seine Virtuosität und wird mit einem Wink vom Orchester irgendwann aufgehalten. Die Kadenz ist „falsch“ positioniert, da sie vom Ensemble dramaturgisch nicht mehr als Kulminationspunkt der solistischen Entfaltung aufgebaut wird, selbst wenn sie vom technischen Anspruch her Höhepunkt bleibt. Bekanntes wird hier verfremdet und differenziert. Man erkennt einen Zusammenhang, ohne ihn tatsächlich zu verstehen. Die Härte dieses Widerspruchs legt Kyburz seinem Klavierkonzert in Aufbau und Form zugrunde. Paradoxe Gegensätze sind oft vergleichbar mit dem Phänomen einer Metapher. Für Kyburz veranschaulicht insbesondere eine späte Erzählung von Jorge Luis Borges mit dem Titel Die Scheibe diesen Sachverhalt. Die Metapher von einer Scheibe mit nur einer Seite irritiert in dieser Geschichte das durch Konventionen gebundene Verständnis des Gegenstandes. Widersprüche werden im Text etabliert, scheinbar Vertrautes rückt in neues Licht. Um ähnliche „metaphorische“ Konsequenzen in musikalischen Abläufen zu erzielen, arbeitet Kyburz bei der Ausgestaltung der einzelnen Sätze mit mathematisch definierbaren Prozessen - Algorithmen -, die die Reihenfolge musikalischer Elemente bestimmen. Diese Mikrostruktur verbindet Einzelmomente immer wieder mit der Gesamtanlage des Konzerts. Eine vergleichsweise kleine Besetzung soll schnelle Übergaben und Klangwechsel sowie eine durchhörbare Artikulation forcieren. Das Orchester ist in symmetrische Hälften aufgeteilt, die rechts und links um den Pianisten gruppiert sind. Durch diesen geweiteten Klangraum sind Einzeleffekte zusätzlich verstärkt, herausgefordert werden historisches Hörvermögen und scheinbar vertraute Konstellationen.
(Martin Demmler, Aus dem Programmheft des „Ultraschall“-Festivals in Berlin vom 21.-30. Januar 2000)
Bibliografie:
Müller, Patrick: Konzert für Klavier und Ensemble, in: Composers-in-Residence (Lucerne Festival, Sommer 2001), S. 185-188.