Hans Zender (1936–2019) Shir Hashirim – Lied der Lieder (Canto VIII)
[Soli,GCh,Orch] 1992/96 Dauer: 120'
Soli: STFI(Picc).Pos.Keyb(Synth) – Chor: SATB(geteilt) – 3(Picc)3(Eh).2B-Klar.A-SaxT-Sax.2.Kfg – 3.3.3.1. – Pk.Schl(4) – Cel – Akk – Str
Uraufführung Teil 1: Salzburg, 1. August 1995
Uraufführung Teil 2: Frankfurt am Main, 15. September 1995
Uraufführung Teil 3: Saarbrücken, 19. Mai 1996
Uraufführung Teil 4: Köln, 21. Februar 1997
Uraufführung des Gesamtwerks: Saarbrücken, 29. März 1998
Text vom Komponisten unter Verwendung einer Wort-für-Wort-Übersetzung von Wilhelm Fuhrmann und Teilen des hebräischen Originaltextes
1. Teil: Jishaqeni – Er küsse mich
2. Teil: Al Mishkabi – Auf dem Lager
3. Teil: Lo Jadatti – Ich erkenne nicht
Überleitung: Koan (für Orchester)
4. Teil: Shalom – Ganzheit
Der wunderbare Text des „Liedes der Lieder“ – oft auch „Hohes Lied“ genannt – hat die Komponisten aller Jahrhunderte des jüdisch-christlichen Kulturkreises immer wieder inspiriert. Meist wurden kurze Episoden aus den acht Kapiteln des Textes herausgebrochen: soviel ich weiß, hat es keine Gesamtvertonung gegeben. Auch gibt es einen Streit unter den Philologen, ob der Text als Zusammenstellung selbstständiger kleiner Einheiten oder als Ganzes zu betrachten ist.
Mich hat mein Leben lang die Aufgabe gereizt, den gesamten Text zu einem sehr großen Stück zu verwenden. Ich musste lang warten, bis ich meine kompositorische Technik so weit entwickelt hatte, um mich dieser Aufgabe gewachsen zu fühlen. Es galt, eine Form zu finden, welche dem Charakter einer locker gefügten und doch erkennbaren Einheit des „Liedes der Lieder“ gerecht wird. Ich entschied mich für eine vierteilige Großform, deren Teile wie eine Folge der vier Jahreszeiten sich zueinander verhalten: eine Wachstumsform. Das harmonische, melodische und rhythmische Material wird im Lauf der 4Ç4Sätze aufgebaut, jede neue Gestalt bleibt bis zum Ende wirksam, macht aber Metamorphosen durch. Es gibt Wiederholungen – manchmal hat man das Gefühl, dass es sich um eine Art großes Rondo mit chaotischem Einschlag handelt –, aber es gibt keine symmetrische geschlossene Architektur.
Das Stück hat Sopran und Tenor (Braut und Bräutigam) als Solisten, denen eine Soloflöte und eine Soloposaune nebengeordnet sind. Diese beiden Instrumente bringen virtuos-konzertante Elemente in den Kantaten-Charakter des Stückes hinein. Sie sind über ein Keyboard mit einem Ringmodulator verbunden; die entstehende Modulation steht in enger Beziehung zur auskomponierten Harmonik des ganzen Stückes. In dieser Harmonik beruht jeder einzelne Klang auf der Entfaltung eines bestimmten Grundintervalls durch Hinzufügung seiner Summen- und Differenztöne (der sogenannten Kombinationstöne). Durch diese Harmonik fühle ich mich dem Engpass entkommen, in den die Musik nach der seriellen Epoche geraten ist und der zu einer Degeneration der Harmonik geführt hat; auch wird es möglich, Mikrointervalle genau zu kontrollieren und für das Ohr fassbar darzustellen. Die beiden Töne, die das Grundintervall jedes Klanges bilden, sind für mich „Braut und Bräutigam“ in einem rein musikalischen Sinn; es wird möglich, alle Klänge in einem generativen Sinn auseinander zu entwickeln, es gibt Verwandtschaften und darin eine Hierarchie.
Das Shir Hashirim ist mein „Befreiungsschlag“, mit dem ich endlich meine eigene musikalische Welt definieren konnte. Alle seither entstandenen Stücke entwickeln und variieren den hier gefundenen Ansatz.
CDs:
SWR Vokalensemble Stuttgart, SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Ltg. Sylvain Cambreling
Kairos 0012612KAI (November 2006)
(Ausschnitte)
Kamerkoor Nieuwe Muziek, RSO Saarbrücken, Ltg. Hans Zender
CD BMG 74321 73570 2
Bibliografie:
Mundry, Isabel: Sur „Shir Hashirim“, in: Unité – Pluralité. La musique de Hans Zender. Colloque Strasbourg 2012, hrsg. von Pierre Michel, Marik Froidefond und Jörn Peter Hiekel, Paris: Hermann 2015, S. 233-239.
dies.: Bemerkungen zu Hans Zenders „Shir Hahsirim“, in: Hans Zender. Vielstimmig in sich, hrsg. von Werner Grünzweig, Jörn Peter Hiekel und Anouk Jeschke (= Archive zur Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, Band 12), Hofheim: Wolke 2008, S. 91-97.