Hans Zender (1936–2019) Nanzen no kyo (Canto VII)
[4GCh,Orch] 1992 Dauer: 22'
Chor: 4 Gruppen (jeweils SATB) – 4(2Picc).0.4(2B-Klar).0. – 2.3.3.0. – 2Pk.Schl(4) – 2Klav – Str: 3.0.1.3.1.
UA: Köln (Musik der Zeit), 11. Juni 1993
Am Anfang der Arbeit stand der Wunsch, ein Stück für den WDR-Chor zu schreiben: für dieses ausgezeichnete Ensemble, das schon zwei meiner Cantos (Nr.II und V) aufgeführt hat. Gleich zu Anfang war auch die Wunschvorstellung vorhanden, so etwas wie eine Klangwanderung im Raum stattfinden zu lassen. Nach einiger Überlegung entschied ich mich für die Anordnung der Ausführenden in vier Gruppen; jede der vier Gruppen sollte die gleiche Anzahl Instrumente und Sänger, die gleichen Klangfarben enthalten: so konnte es möglich werden, identische Klänge im Raum zu verschieben.
Meine kompositorische Arbeit teilt sich in verschiedene „Stränge“. Neben Werken, welche bewusst die europäische Tradition fortsetzen – und z.T. explizite Bezüge zu bestimmten Punkten der europäischen Musik und Geistesgeschichte enthalten –, gibt es eine Reihe von Stücken, welche einen neuen Umgang mit der musikalischen Zeit zum Thema haben; von Anfang an stand für mich fest, dass das WDR-Stück in diese Reihe gehörte. Diese Stücke wollen der „organischen“, Gegensatz und Wiederholung vermittelnden Formgestaltung entgehen, die so typisch für unsere Musiktradition ist, und stattdessen die Extreme der Musik aufsuchen: die chaotischen Zonen um die Pole maximaler „Ordnung“ und „Unordnung“ herum. In diesen Zonen ist die Kontrolle des beobachtenden Ichs eingeschränkt; das Unbewusste kann deutlicher in Erscheinung treten als in den harmonischen Bahnen einer ausgeglichenen Ästhetik.
Oft wählte ich für solche Stücke als sprachliches Material kurze Texte aus dem Umkreis der mittelalterlichen Mystik oder des japanischen Zen, welche die größtmögliche Entfernung von subjektivistischem Gefühl und alltäglicher Logik markieren. Diesmal jedoch war ich entschlossen, ein Stück ohne Textvorlage, d.h. nur mit frei entworfenen Konsonant-Vokal-Strukturen zu schreiben. Ziemlich zu Anfang der Arbeit stellte sich jedoch heraus, dass wider alle Absicht doch ständig inhaltliche Assoziationen auftauchten – unfreiwillige und unkontrollierte Poesie sozusagen. So entschloss ich mich, nachdem Teile des Stückes schon konzipiert waren, doch noch zur Disziplinierung der Stimmklänge durch eine Textvorlage. Seit 10 Jahren bin ich besonders fasziniert von dem japanischen Zen-Dichter Ikkyu, welcher über tausend Gedichte in immer gleicher Form schrieb: auf dem knappen Raum von 4Zeilen zu je 7Zeichen (ein Zeichen entspricht einem Wort, rhythmisch gesehen einer Silbe) wird ein Sprachmaterial versammelt, das eine maximale Fülle von Kontrasten in sich enthält. Diese poetischen Konzentrate ziehen dem Leser durch eine Häufung unlösbarer Widersprüche bzw. Rätsel sozusagen den Boden unter den Füßen weg, den Boden eben der Logik und des Gefühls, auf denen unser Ich beruht.
Ich fand ein Gedicht, dessen Rohübersetzung so lautet:
Lust/Leid; heiß/kalt: Zeit vertan!
Unser Ohr? Nur „zwei Stück Fleisch“.
Eins - zwei - drei - hei! - drei - zwei - eins:
Nanzen schneidt` die Katz entzwei.
Die letzte Zeile bezieht sich auf eine bekannte Zen-Anekdote. Im Kloster des berühmten Meisters Nanzen streiten sich die Mönche der zwei Hauptabteilungen um eine Katze, die von jeder der beiden Gruppen verwöhnt und für sich beansprucht wird. Um diese wenig klösterliche Übung zu beenden, ergreift Nanzen die Katze, zückt ein Messer und ruft: „Wenn nicht gleich einer von euch zu dieser Situation ein tiefes Wort der Wahrheit sagen kann, schneide ich die Katze in zwei Stücke“. Dass den Mönchen so schnell nichts einfiel, ist verbürgt; darüber, ob Nanzen die Katze wirklich zerschnitten hat oder nicht, gehen die Meinungen seit jeher auseinander. Auf jeden Fall steht seit dieser Zeit die mächtige Gestalt Nanzens mit drohend gezücktem Messer als Symbol für die dauernde Gefahr des menschlichen Bewusstseins, die komplexe Wirklichkeit des Lebens durch den zergliedernden Verstand in einzelne ichhaft besetzte „Objekte“ zu zerschneiden.
Für den Musiker hat diese Geschichte eine besondere Bedeutung. Ein Stück Musik hat eine umso größere Wirkung, je stärker seine Spontaneität und je einheitlicher seine Struktur ist – jeder Interpret weiß das. Die Tätigkeit des notierenden Komponisten ist in gewissem Sinn dieser dramatischen Aktualität der lebendig erklingenden Musik genau entgegengesetzt: er muss, um zu notieren, mühsam jeden einzelnen Augenblick des Ganzen in abstrakte Zeichen, in genaue Zahlenproportionen (seien es Rhythmen, Tonhöhen oder Klangfarben) verwandeln und wird von der stets lauernden Gefahr begleitet, darüber den Fluss und die Energie des aktuellen Zeitablaufs aus den Augen zu verlieren.
So schwebte während der Arbeit an CantoVII Nanzens Bild drohend über mir, insbesondere weil ich mir eine extrem schwierige Aufgabe für die formale Konstruktion gestellt hatte. Ich sprach schon davon, dass ich in manchen meiner Stücke die „Grenzen“ der Musik auszuloten versucht habe - das bedeutet für mich auf der einen Seite, eine Musik zu konzipieren, welche sich kaum mehr bewegt bzw. „in sich kreist“; auf der andern Seite, eine Musik zu suchen, welche sich immer nach vorn bewegt, immer Neues entwickelt, ohne je – durch Wiederholungen bestimmter Gestalten zurückzuschauen. Diesmal wollte ich eine Form finden, welche die beiden Extreme in einer Gegenspannung verbindet.
Während der Arbeit schälte sich allmählich die Einsicht heraus, dass eine Balance zweier so gegensätzlich verstreichender Zeitfelder nur möglich ist, wenn beide „Musiken“ genau gleich viel Zeit zur Entfaltung erhalten und wenn der Wechsel zwischen beiden Extremen mehrfach wiederholt, sozusagen „ritualisiert“ wird. Und plötzlich war die Lösung da: den vier Zeilen des Ikkyu-Gedichtes entsprechend gibt es je vier „Linien“ genannte Teile, welche die sieben Zeichen einer Zeile linear „lesen“ (und durch eine allmähliche Verwandlung der japanischen Originalsilben in deutsche Silben, durch Vertauschung von Vokalen und Konsonanten und anderer permutativer Techniken auch „übersetzen“!), und dann je vier so genannte „Rotationen“, in denen der vorher buchstabierte Text kreist und zur Konstellation wird. Nicht genug damit: die vier Rotationen sollten in der Folge immer komplexer werden, dergestalt, dass in der 4.Rotation eine vierfache Polyphonie auftaucht, gegenüber dem ein- bis dreifachen Stockwerkbau der anderen Rotationen. Charakteristisch nun für meine Form ist, dass alle Linien und Rotationen die genau gleiche Zeitdauer haben.
Um diese achtfach gebrochene Form wurde dann noch ein „Rahmen“, eine Introduktion und eine Coda, gelegt, eher großflächig komponiert und die starke Innenspannung des Stückes ausgleichend. Den Fachmann mag noch interessieren, dass ich in diesem Stück zum ersten Mal so genannte „chaotische Reihen“ verwendet habe, und zwar sowohl zur Gewinnung von Tonhöhen wie von Dauern. Es sind dies Zahlenfolgen, welche „in der Mitte“ zwischen Zufallsfolgen und linearen Reihen (d.h. Serien) stehen; diese Reihen entspringen einer linearen Reihe, welche an einer Stelle einen „Fehler“, etwa eine „aus der Reihe tanzende“ Wiederholung eines Wertes enthält. Dieser „Fehler“ verwandelt in einem nie endenden Prozess die Urreihe zu immer neuen, wenn auch verwandten, Formationen. Es entsteht Kontinuität in der Asymmetrie von „offener Form“.
CD:
WDR Rundfunkchor Köln, WDR Sinfonieorchester Köln, Ltg. Hans Zender
CD WERGO WER 7339 2