Hans Zender (1936–2019) Denn wiederkommen
Hölderlin lesen III [2Vl,Va,Vc,Spr] 1991 Dauer: 24'
Uraufführung: Museumsinsel Hombroich, 31. Mai 1992
Weitere Werke Zenders aus dem Zyklus Hölderlin lesen finden Sie hier.
36 Seiten | 25 x 38 cm | 223 g | ISMN: 979-0-004-50202-0 | geheftet
In den alten Kulturen war das, was wir heute „Musik“ und „Dichtung“ nennen, eine Einheit. Denken wir nur an die lotrijgn<' [musiké] der Griechen, oder an Beschreibungen, die wir in den klassischen chinesischen Schriften finden. Aber natürlich: Kulturgeschichte ist ein Differenzierungsprozess, und so finden wir zur Zeit unserer europäischen Klassiker den Vorstoß der Musik zu ihrer „Autonomie“ – ihrer offiziellen Scheidung von dem Metier der Dichter. (Noch 1739 hatte Mattheson in seinem Vollkommenen Capellmeister von jedem Musiker „Gewandtheit in der Dicht-Kunst“ und genaueste Kenntnis der Verslehre verlangt.)
Seit dieser Scheidung sind nun die Musiker sehr eifrig damit beschäftigt, eine autonome Grammatik und Syntax der „Tonkunst“, wie die Musik jetzt genannt wird, zu entwickeln, während in der Dichtung – besonders natürlich in der experimentellen, von Jean Paul und Mallarmé bis zu Joyce und Celan – gerade das „Musikalische“ in der Poesie gesucht wird. Hierunter ist oft der Wunsch verborgen, die Verhärtung, welche die Wortsprache durch ihre begriffliche Fixierung – extrem in der Wissenschaft! – erfährt, wieder aufzuheben und sie in einen „musikalischen“ Zustand von Unbestimmtheit, von Offenheit zurück zu versetzen.
Oberflächlich betrachtet entwickeln sich die beiden Künste in der Moderne also auseinander; eine Berührung zwischen ihnen wird immer schwieriger. Zu groß die Gefahr, dass die mühsam errungene Autonomie der einen wieder der Übermacht der andern geopfert wird! Entweder wird die Musik, wenn sie schwach ist, zu bloßer Illustration und Stimmungskulisse; oder sie verschlingt in ihrer klanglichen und zeitlichen Ausformung den eigenen Klang und Rhythmus der Dichtung.
Manche Musiker haben in den letzten Jahrzehnten dieses Problem noch verinnerlicht und eine Art Bilderverbot auch innerhalb der Musik aufgestellt: Gestik, Expressivität, Assoziationsfähigkeit der musikalischen Strukturen wurden unterdrückt. Ich halte das für ein neurotisches Verhalten und außerdem für irreführend. Es gibt schon seit jeher auch eine musikalische Semantik – das vergessen manche vor lauter Syntax und Grammatik; und es ist kein Grund einzusehen, warum in der Situation der Autonomie nicht musikalische und sprachliche Semantik in eine neue Art von Verhältnis treten könnten. In der Bach-Kantate, im Schubert-Lied, in der Wagnerischen Leitmotivik waren das 1:1-Lösungen; aber schon Wagner hat gezeigt, dass man diese Identität auch dialektisch aufsprengen kann.
Und wie erst in der Vielsprachigkeit der heutigen Moderne! In meiner Oper Stephen Climax habe ich den Hauptpersonen des Ulysses von James Joyce bestimmte - historisch ortbare - Musiksprachen zugeteilt (welche jeweils wieder bestimmte intervallische und rhythmische Struktureigenschaften zeigen, welche ihrerseits wieder seriell oder statistisch geordnet sind – es geht bis ins kleinste Detail ganz „autonom“ zu!!); der Kosmos unserer europäischen Musikgeschichte wird sowohl dem Kosmos der Joyceschen Figuren (ihrerseits „geschichtsträchtig“!) wie auch dem aktuellen musikalischen Bewusstsein zugeordnet, aber eben oft auch über Kreuz, paradox, mehrschichtig, mehrdeutig ... Die Tatsache, dass diese spezifische Möglichkeit einer neuartigen Einheit von Sprache und Musik von den berufenen Musikologen noch kaum bemerkt worden ist, zeigt nicht nur deren Langsamkeit, sondern auch die Dominanz des „bildlosen Denkens“ in der – jetzt abgelaufenen – Phase der Neuen Musik.
In meinen Hölderlin lesen-Stücken ging es mir darum, Wege zu finden, die gewaltigen Sprachstrukturen Hölderlins so in die zeitliche Form der Musik zu integrieren, dass sie Funktionen der musikalischen Form übernehmen, ohne in ihrer Eigenkraft (sowohl akustisch wie auch im Sinne expressiver „Deutung“) im geringsten geschmälert zu werden. Das hieß zunächst: Sprechen, nicht singen! – Aber das würde nur bedeuten, dass es nicht um die Musikalisierung von Text geht; ebenso wichtig ist es, dass es auch nicht um melodramatisch „erzählende“ Musik geht. Sondern: Zwei autonome Künste durchdringen sich auf diaphane Weise, ohne sich zu überformen oder auszulöschen; es handelt sich um einen Dialog, nicht um eine Vereinnahmung durch Hierarchisierung.
Ein weiteres Thema, das in der musikalischen Diskussion der letzten Jahrzehnte zu kurz gekommen ist und deswegen jetzt neu am Horizont erscheint, ist die Rhetorik. Inwieweit kann musikalische Form nicht nur logisch bzw. syntaktisch, sondern auch rhetorisch verstanden werden? Rhetorik und Satztechnik z.B. hängen zusammen. Ich kann diese Problematik (die ich in meinem vierteiligen, abendfüllenden Shir Hashirim „auskomponiert“ habe) hier nur andeuten.
Musik steht zwischen Zahl und Wort; sie hat an beidem teil. So konnte sie das Zentrum der „Sieben Freien Künste“ in alten Zeiten bilden ... (Heinrich Schütz sagte, dass sie zu diesen – also zu den mathematisch-astronomischen und den literarischen Künsten – wie die „Sonne zu den Planeten“ sich verhalte.) Mir scheint, dass wir die Komposition seit 50 Jahren zu einseitig nur von der Zahl her definieren; sie hat geschichtlich ebenso viel mit Sprachstruktur zu tun. Wir können Neuland gewinnen, wenn wir als heutige Musiker dies neu durchdenken.
Es handelt sich hier um meinen dritten Versuch einer Annäherung an das Problem einer „Verzeitlichung“ der Hölderlinschen Texte d.h. einer Möglichkeit, diese Texte in einer Performance darzustellen: da die Musik das eigentliche Element der zeitlichen Darstellung ist, werden die Hölderlinschen Worte mit Tönen konfrontiert.
Im Fall von denn wiederkommen geht es um neun Zeilen aus Hölderlins Patmos-Hymne. Je eine solche Zeile wird einem Formabschnitt der Musik zugeordnet (das Stück ist also, wie meine Lo-Shu-Stücke, neunteilig). Die betreffende Zeile erklingt nicht nur einmal, sondern wird, in der gleichen Weise wie auch das musikalische Material, nach einem chaotischen Repetitionsprinzip mehrfach wiederholt.
Auffällig ist ferner, dass für jeden der neun Teile ein von einem der vier Quartettspieler festgehaltener „Grundton“ gewählt wurde; durch diese orgelpunktartige Wirkung wird jeder der neun Teile zusammengehalten, und der Hörer kann die langsame Bewegung der Großform im unmittelbaren Hörprozess mitvollziehen.
Die neun Sätze von Hölderlin lauten:
1. Furchtlos gehen die Söhne der Alpen über den Abgrund weg auf leicht gebaueten Brücken...
2. Sie hören ihn und liebend tönt es wieder von den Klagen des Manns...
3. Im goldenen Rauche blühte schnell aufgewachsen mit Schritten der Sonne, mit tausend Gipfeln duftend, mir Asia auf, und geblendet...
4. Gegangen mit dem Sohne des Höchsten, unzertrennlich, denn es liebte der Gewittertragende die Einfalt des Jüngers...
5. Wenn aber stirbt alsdenn, an dem am meisten die Schönheit hing...
6. Eingetrieben war wie Feuer in Eisen das, und ihnen ging zur Seite der Schatten des Lieben. Drum sandt er ihnen den Geist und freilich bebte das Haus und die Wetter Gottes rollten ferndonnernd...
7. Über die Berge zu gehn allein, wo zwiefach erkannt, war einstimmig und gegenwärtig der Geist...
8. Und hier ist der Stab des Gesanges, niederwinkend, denn nichts ist gemein. Die Toten wecket er auf...
9. Denn wiederkommen sollt es, zu rechter Zeit. Nicht wär es gut gewesen, später, und schroff abbrechend...
(Hans Zender)
CD:
Salome Kammer (Stimme), Arditti String Quartet
CD Montaigne MO 782094
Bibliografie:
Nyffeler, Max: Fluchtpunkt Patmos. Hans Zenders Komposition „Denn wiederkommen. Hölderlin lesen III“, in: Neue Zeitschrift für Musik 180 (2019), Heft 1, S. 44-47.
ders.: Lesen, Schreiben, Hören. Zum Verhältnis von Musik und Sprache bei Hans Zender, dargestellt an der Komposition „,denn wiederkommenʻ. Hölderlin lesen III“, in: „Ein Zeichen sind wir, deutungslos“. Hölderlin lesen, Ikkyu Sojun hören, Musik denken, hrsg. von Violetta L. Waibel, Göttingen: Wallstein 2020, S. 299-329
Waibel, Violetta L.: Hölderlin Lesen, Ikkyu Sojun Hören, Musik Denken, in: Festivalkatalog Wien Modern 29 (2016), Essays, S. 196-198.
Zenck, Martin: Hölderlin lesen – seiner „Stimme“ zuhören. Hölderlin-Lektüren von Klaus Michael Grüber, Hans Zender und Bruno Ganz, in: Neue Zeitschrift für Musik 172 (2011), Heft 6, S. 25-29.
Zender, Hans: Zu meinem Zyklus „Hölderlin lesen“, in: Mnemosyne. Zeit und Gedächtnis in der europäischen Musik des ausgehenden 20. Jahrhunderts, hrsg. von Dorothea Redepenning und Joachim Steinheuer, Saarbrücken: Pfau 2006, S. 26-40.