Klaus Hinrich Stahmer (*1941) Momentaufnahmen (schwarz/weiß)
[Spr,KamEns] 1986/87 Dauer: 32'
Solo: Spr – Fl(Picc.BFl).Klar(Sax) – Pos – Schl(1-2) – Git(EGit) – Klav.Cemb – Vl.Va.Vc.Kb
UA Berlin, 1. Oktober 1988
UA Berlin, 1. Oktober 1988
Die MOMENTAUFNAHMEN (SCHWARZ/WEISS) halten Grenzsituationen fest, geben die Unwirklichkeit wieder, wie man sie zwischen Schlafen und Wachen erlebt. Teilweise ist alles so weit ins Dunkel getaucht, daß kaum noch Umrisse erkannt werden können, teilweise herrscht ein fahles Weiß, wo die Dinge kaum noch Schatten werfen.
Überwach-gereizte Hypersensibilität zur Nachtzeit, zugleich das eingeschränkte Sehvermögen, das Sehenwollen und Nichtsehenkönnen, Ahnungen und Erinnerungen bis zum ersten Dämmerlicht in der Frühe: Klangvisionen - zerkratzt und verschabt, ausufernd wie Rotweinflecke auf weißem Tischtuch - am Rande der Stille. Bilder, die dem Tageslicht nicht standhalten, Labyrinthe des Denkens. Texte von Ionesco, Plath, Baldwin und Beckett verleihen der Musik faßlicheren Sinn, transzendieren sie zugleich in die Verschlüsselung hieroglyphenartiger, symbolhafter Sprache, die bei aller Härte der Diktion zum wacheren Zuhören verführt. Weiß: das kapriziöse Element im kaum auflösbaren Dunkel, die ironische Distanz zur Bitterkeit des Schwarzen. „Komm Trost der Welt, du stille (?) Nacht...“ Für die eigenwillige Diktion der ersten, Eugene Ionesco gewidmeten Momentaufnahme möchte ich den Begriff Surrealismus in Anspruch nehmen. Festgehalten sind Eindrücke, die sich im Auge festsetzen, wenn man lange und intensiv auf etwas schaut. Mit Mühe etwas aussprechen, der Klang sprachähnlich. Konsonanten und Vokale mit Instrumenten wiedergeben. Aber, wie gesagt, mit äußerster Mühe und kaum noch verständlich. Erinnerungen eingeblendet, Reminiszenzen an den schönen Schein vergangener Zeiten, zerbrechliche arg gestört. Folgt Jimmys Blues. Natürlich kein jazziges Stück, und doch voller „Blues“. Eher wie ein Negativbild, wo alles ins Gegenteil verkehrt erscheint. Überlagerung mehrerer Zeitschichten, Aufhebung des eindeutig Nachvollziehbaren. Momentaufnahme aus der dunkelsten Stunde, die kurz vor der ersten Dämmerung erfüllt ist von Träumen. Träumen, die mehr Wirklichkeit in sich bergen als die sogenannte Wirklichkeit. Und dann ein helles Bild, freundliche Vision: Reflex auf die Komposition eines befreundeten Musikers, diese zugleich überhöhend, verlassend und auflösend. Ein Scherzo als Mittelsatz des ansonsten eher matt-gestimmten Zyklus. Winterreise un poco giocoso. Als Intermezzo capriccioso - formales Pendant zu Baldwins „Blues“ - die Mirlitonade nach Beckett. Textlich und musikalisch ein Paradoxon. Das Finale ist klanglich zwar ein wenig aufgehellt gegenüber dem Ionescosatz, inhaltlich und in seiner Diktion aber eher noch unerbittlicher, schwarz in schwarz. Endzeit-Vision mit hoffnungsvollem Ausgang. (Klaus Hinrich Stahmer)
Die MOMENTAUFNAHMEN (SCHWARZ/WEISS) halten Grenzsituationen fest, geben die Unwirklichkeit wieder, wie man sie zwischen Schlafen und Wachen erlebt. Teilweise ist alles so weit ins Dunkel getaucht, daß kaum noch Umrisse erkannt werden können, teilweise herrscht ein fahles Weiß, wo die Dinge kaum noch Schatten werfen.
Überwach-gereizte Hypersensibilität zur Nachtzeit, zugleich das eingeschränkte Sehvermögen, das Sehenwollen und Nichtsehenkönnen, Ahnungen und Erinnerungen bis zum ersten Dämmerlicht in der Frühe: Klangvisionen - zerkratzt und verschabt, ausufernd wie Rotweinflecke auf weißem Tischtuch - am Rande der Stille. Bilder, die dem Tageslicht nicht standhalten, Labyrinthe des Denkens. Texte von Ionesco, Plath, Baldwin und Beckett verleihen der Musik faßlicheren Sinn, transzendieren sie zugleich in die Verschlüsselung hieroglyphenartiger, symbolhafter Sprache, die bei aller Härte der Diktion zum wacheren Zuhören verführt. Weiß: das kapriziöse Element im kaum auflösbaren Dunkel, die ironische Distanz zur Bitterkeit des Schwarzen. „Komm Trost der Welt, du stille (?) Nacht...“ Für die eigenwillige Diktion der ersten, Eugene Ionesco gewidmeten Momentaufnahme möchte ich den Begriff Surrealismus in Anspruch nehmen. Festgehalten sind Eindrücke, die sich im Auge festsetzen, wenn man lange und intensiv auf etwas schaut. Mit Mühe etwas aussprechen, der Klang sprachähnlich. Konsonanten und Vokale mit Instrumenten wiedergeben. Aber, wie gesagt, mit äußerster Mühe und kaum noch verständlich. Erinnerungen eingeblendet, Reminiszenzen an den schönen Schein vergangener Zeiten, zerbrechliche arg gestört. Folgt Jimmys Blues. Natürlich kein jazziges Stück, und doch voller „Blues“. Eher wie ein Negativbild, wo alles ins Gegenteil verkehrt erscheint. Überlagerung mehrerer Zeitschichten, Aufhebung des eindeutig Nachvollziehbaren. Momentaufnahme aus der dunkelsten Stunde, die kurz vor der ersten Dämmerung erfüllt ist von Träumen. Träumen, die mehr Wirklichkeit in sich bergen als die sogenannte Wirklichkeit. Und dann ein helles Bild, freundliche Vision: Reflex auf die Komposition eines befreundeten Musikers, diese zugleich überhöhend, verlassend und auflösend. Ein Scherzo als Mittelsatz des ansonsten eher matt-gestimmten Zyklus. Winterreise un poco giocoso. Als Intermezzo capriccioso - formales Pendant zu Baldwins „Blues“ - die Mirlitonade nach Beckett. Textlich und musikalisch ein Paradoxon. Das Finale ist klanglich zwar ein wenig aufgehellt gegenüber dem Ionescosatz, inhaltlich und in seiner Diktion aber eher noch unerbittlicher, schwarz in schwarz. Endzeit-Vision mit hoffnungsvollem Ausgang. (Klaus Hinrich Stahmer)