Mathias Spahlinger (*1944) 128 erfüllte augenblicke
systematisch geordnet, variabel zu spielen [Singst,Klar,Vc] Dauer: 30'
UA: Stuttgart, 1976
262 Seiten | 30,5 x 23 cm | 938 g | ISMN: 979-0-004-50175-7 | Mappe
der stein des weisen eignet sich vorzüglich als wurfgeschoss.
alles formulierte/komponierte enthält einen wahrheitsanspruch, der zur verabsolutierung tendiert; er sollte dadurch zurückgenommen werden, dass auf die bedingungen der formulierung der wahrheit zurückverwiesen wird. diese metawahrheit entgeht aber nicht der widerlegbarkeit; sie ist kein trick, sich aus der aufhebbarkeit herauszumogeln. nur: sie lädt, weil sie versucht, nichts apodiktisch vorzufragen, zur widerlegung ein.
alles denken dient in seiner unmittelbarkeit (als standpunkt) der erhaltung seiner selbst und dessen, der es denkt. die unmittelbare selbsterhaltung hat selbstmord-charakter.
musik, zusammen mit ihrem werden.
form ohne eigenschaften (musil): in der fülle der möglichen beziehungen zerfällt die kontinuität der zeit in augenblicke, der zwang der ereignisse wird suspekt.
aber nicht gemeint ist die allgemeine, bedeutungslose freiheit (die furie des verschwindens [hegel]), die sich (wie cage) mit abstrakter notwendigkeit in den zufall stürzt. wo die unmittelbarkeit der erfahrung gegen systemgebundenes denken ausgespielt wird, in der meinung, von der sache selbst zu reden, folgt die Erfahrung einem ihr nicht bewussten system der selektiven wahrnehmung, aus dem sie das gefühl der unmittelbaren evidenz, der identität von sache und begriff, ihre sinnliche gewissheit bezieht.
aus dem bedürfnis, einen freieren und innigeren zusammenhang herzustellen, die funktion des einzelnen im ganzen nicht als resultat unmittelbar, sondern im entstehen, d. h. als auch anders möglich, das gleiche in geändertem zusammenhang mit veränderter funktion vorzuführen, wurde ein konzept struktureller und funktionaler verknüpfung erstellt, das sich nicht in der zeit entfalten lässt.
jeder der 128 augenblicke repräsentiert einen von vier punkten in einem gedachten kontinuum zwischen den extremen dreier dimensionen: er besteht aus ausschließlich gleichen, vielen gleichen und wenig verschiedenen, wenig gleichen und vielen verschiedenen oder ausschließlich verschiedenen tonhöhen; aus langen, vielen langen und und wenig kurzen, wenigen langen und vielen kurzen oder ausschließlich kurzen dauern; aus auschließlich vielen, wenigen tonhöhen oder ausschließlich geräuschen. sie sind mit diesen eigenschaften aber nicht statisch, sondern haben zu- oder abnehmende tendenz. aus der kombination dieser wenigen eigenschaften miteinander ergeben sich 4x4x4x2 = 128 augenblicke, die, da sie zwar untereinander auf mannigfaltige weise teils eng teils weniger eng strukturell verknüpft sind, aber ein ordnungsprinzip repäsentieren, das sich im musikalischen zeitverlauf nicht darstellen lässt, sich als einander ausschließen wollende voneinander isolieren und sich zugleich in einer traurigen freiheit füreinander öffnen. sie sind in jeder beliebigen reihenfolge und anzahl zu spielen.
die apriorität des individuellen über das ganze (hölderlin)
dass der hörer weiß, wo er sich befindet, ohne zu wissen, wo er sich formal und in derzeit befindet dass alles ebensogut anders sein könnte könnte alle notwendig entstehenden text-kontext-hierarchien als temporär und gradweise herrschend (hölderlin) durchschaubar machen.
die wahrnehmung selektiert von gleichbleibenden einzelheiten in verschiedenen zusammenhängen verschiedene eigenschaften; ähnlichkeiten zwischen einzelnen augenblicken können zur identität verschmelzen, geringfügige unterschiede gewichtig werden, identisches ist nicht identisch.
erfüllter augenblick, treffender ausdruck, sinnzusammenhang sind als vom musikalischen sprachraum abhängige (also als soziale) glücksfälle nicht konstruierbar; darauf ist zu reagieren ohne weinseligkeit, ohne die atomisierung der einzelheiten mit lust an der selbstzerstörung noch zu rufen; aber auch ohne mit auftrumpfendem dennoch auf traditionelle kommunikationsmuster zurückzugreifen.
wie entgeht man der rolle des aktiven konzeptiven ideologen, welcher die ausbildung der illusionen dieser klasse über sich selbst zu seinem hauptnahrungszweige (marx) macht?
vielleicht ist eine politisch nicht ganz unrelevante musik ohne esoterische ballonmützen-ästhetik möglich: musik kann etwas von der wirklichkeit bewusst machen dadurch, dass sie die chiffren bewusst macht, nach denen die wirklichkeit dechriffiert wird.
wer die musik nur politisch versteht, versteht auch von politik nichts.
Mathias Spahlinger (Pforzheim, 06.04.1990)
Bibliografie:
Blume, Philipp: Mathias
Spahlingers 128 erfüllte augenblicke and the parameters of listening,
in: Music of Nicolaus A. Huber and Mathias Spahlinger, hrsg. von
Philipp Blume, Contemporary Music Review 27 (2008), Heft 6, S. 625-642.
Houben, Eva-Maria: Mathias Spahlinger: 128 erfüllte augenblicke ..., in: dies., Musikalische Praxis als Lebensform (= Musik und Klangkultur 27), Bielefeld: Transcript 2018, S. 198-201.
Nimczik, Ortwin: Konstruktive Dekonstruktion. Musik von Mathias Spahlinger im Unterricht - Annäherungen und Beispiele, in: Klang und Wahrnehmung. Komponist - Interpret - Hörer (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung, Band 41), Mainz: Schott 2001, S. 165-193.
Saunders, James: Vielfalt an Konfigurationen. Modulare Musik, in: MusikTexte, Heft 130, August 2011, S. 58-77.
Wolf, Benjamin und Francois Förstel: Erfüllte Augenblicke, in: Musik & Unterricht Heft 99, Juni 2010, S. 38-45.