Steffen Schleiermacher (*1960) Una cava di nostalgia
1996 Dauer: 16'
SMezATB – 2Klar.ASax[Es].Fg – Pos – Schl – 3Vl.Va.Vc sowie Steine
UA: Hannover, 25. Mai 1997
Die Auseinandersetzung mit Gesualdo di Venosa begann während meines Studiums. Mein damaliger Kompositionslehrer hatte diesen Meister des Madrigals gerade für sich entdeckt und stellte uns, seinen Schülern, im Unterricht einige dieser Werke vor. Bald darauf entwickelte sich bei uns eine (vorübergehende) Sucht, diese Stücke zu spielen und vor allem, sie zu analysieren. Bis heute fasziniert mich immer diese für mich einmalige Mischung von Kalkül und Emotion. Die glühende Expressivität, mit der die zum Teil recht morbiden Texte vertont werden, macht einen schnell vergessen, daß diese Madrigale bis ins letzte Detail konstruiert sind. Die meisten der Madrigale bestehen aus zwei Grundelementen, wir haben diese in unseren Unterrichtsanalysen »Klangblöcke« und »lmitationsketten« genannt, wobei die Grenzen dabei fließend sind. Die Klangblöcke sind meist akkordische Fortschreitungen von z.T. abenteuerlichen Harmonien im langsamen Tempo, die Imitationsketten dagegen beruhen auf Motiven mit vorwiegend kleinen Notenwerten und Verzierungen aller Art, welche durch die Stimmen geführt werden und dabei nie in der gleichen Gestalt wieder auftauchen, sondern immer wieder leichten Veränderungen unterworfen sind. In dieser Variationskunst hat sich Gesualdo als Meister der Polyphonie gezeigt.
Mein Lieblingsmadrigal ist das berühmte Moro lasso, vermutlich auf einen Text von Gesualdo selbst. Die Anfangsakkorde verblüffen mich immer wieder. Daß nur ein Ton zur Zwölftönigkeit fehlt - und daß dies Gesualdo scheinbar bewußt war und er diesen letzten Ton eben darum nicht verwendet haben mag, ist dabei nur eine interessante Hintergrundinformation. Dieses Madrigal habe ich (neben anderen) in verschiedenen Fassungen instrumentiert (für großes Orchester, für Kammerensemble) und habe auch einmal ein Orchesterstück begonnen, in dem latent dieses Madrigal immer wieder auftauchen sollte.
So führte mich die Idee von Walther Nußbaum, ein Stück zu schreiben, was doch irgendwie mit Gesualdo zu tun hat, eigentlich wieder auf vertrautes Gebiet. Und natürlich war es wieder mein geliebtes Moro lasso, welches ich verwenden wollte. Fragmente aus diesem Madrigal tauchen in dem Stück auch an verschiedenen Stellen auf, mal mehr, mal weniger verfremdet. Auch den Text habe ich verwendet, sicher nicht wegen seiner literarischen Qualitäten, vielleicht eher aus Sentimentalität (daher auch der Titel Steinbruch der Sehnsucht), und wegen seiner schönen Eindeutigkeit.
Meine Absicht war es jedoch nicht, eine Adaption des Madrigals zu komponieren. Besagte Musik- und Textzitate sind eher eine Art Verbeugung vor dem großen Meister.
Wesentlich war für mich die Abwechslung von ruhigen Klangblöcken und bewegten Imitationsketten. Diese Idee habe ich in der Komposition auf unterschiedlichste Gegensätze transformiert (Instrumente/Stimmen, Singen/Atmen, temperierte Stimmung/ Mikroglissandi, wahrnehmbarer Puls/scheinbar freies Schweben, das Nebeneinander heterogener »Stilrichtungen« usw.) Und wie bei Gesualdo durchdringen und überlagern sich beide Ebenen.
(Steffen Schleiermacher)