Michael Obst (*1955) Poèmes
d'après des images en blanc et noir [Orch] 1990/92 Dauer: 30'
4(2Picc).4.4.B-Klar.2(Kfg) – 6.4.4.1 – Schl(4) – Hfe – Klav – Str
Uraufführung: Bonn, 25. März 1993
Der Gedanke, für Orchester zu komponieren, spielte für mich lange Zeit eine weniger wichtige Rolle. Schon während meines Hochschulstudiums schreckte ich vor diesem vorherrschend konservativen Klangkörper mit seiner immens großen Musiktradition und damit verbunden mit seiner von vorne herein als eher unflexibel einzuschätzenden Haltung gegenüber allem Neuen und Unkonventionellen zurück. Zu undurchschaubar zeigte sich mir neben vielen anderen Komponisten meiner Generation der Musik-Betrieb um das Orchester, der in Deutschland durch seine Subventionierung immer zwischen kulturpolitischem Auftrag, der oft genug gerne vergessen wird, und der Philosophie des Geschäftes mit Musik und damit verbunden mit ihrer verstaubten und häufig eher abstoßenden Ideologe des Starkultes pendelt. Daneben schienen zahlreiche ausgezeichnete Orchesterwerke dieses Jahrhunderts schon hinreichend Antworten auf Fragen gegeben zu haben, die zeitgenössisches Komponieren für Orchester aufwirft. Mein Interesse konzentrierte sich auf Musik für Soloinstrumente, kleine Ensembles, sowie elektronische Musik. Doch dann kam alles ganz anders.
1990 erhielt ich einen Auftrag der Philharmonie Köln, eine Musik zu dem Stummfilm Dr. Mabuse, der Spieler von Fritz Lang zu komponieren. Das 150minütige Werk wurde vom Ensemble Modern an Ostern 1991 zusammen mit dem überragenden Filmklassiker in der Kölner Philharmonie uraufgeführt. Die Komposition dieses für mich bisher umfangreichsten Werkes für Ensemble erstreckte sich über einen Zeitraum von elf Monaten und war naturgegeben begleitet von ungewöhnlichen Erfahrungen. Die gravierendste war wohl, sich mit einer vorgegebenen Form auseinandersetzen zu müssen, die ganz anderen Regeln folgt als man sonst gewohnt ist. Die dramaturgische und filmtechnische Vorlage des Stummfilms mit ihrem festgefugten Zeitraster im Bild- und Handlungsablauf diktierte bedingungslos grundlegende Aspekte der musikalischen Konzeption.
Dabei machte ich neben vielen anderen zwei verblüffende Entdeckungen: Die erste hatte damit zu tun, daß Fritz Langs Inszenierung in Aktion und Bildschnitt eng verwandt war mit typisch musikalischen Formabläufen. Besonders deutlich wurde das bei der Gliederung des Handlungsablaufes einzelner Szenen hinsichtlich der zeitlichen Proportionen. Das führte sogar so weit, daß sich metrische Grundmuster (z.B. 4/4-Takt bei Viertel = MM 92) auf Bildsequenzen abbilden ließen, wobei Handlungsschwerpunkte erstaunlicherweise auf Taktschwerpunkte fielen. Die zweite Entdeckung nach Beendigung der Komposition war, daß große Teile der Filmmusik auch ohne den Film funktionierten; d.h.: unabhängig von Langs Bildkompositionen Bestand hatten.
Mit anderen Worten: Die durch den Film inspirierte musikalische Deutung weist oftmals eine solche Eigenständigkeit auf, daß die musikalische Aussagekraft erhalten bleibt, auch wenn man die dazugehörige Bildsequenz nicht sieht bzw. nicht kennt. Mehrere Gründe mögen dazu geführt haben: Zum einen die schon erwähnte, sicherlich nicht von F. Lang bewußt intendierte „musikalische“ Inszenierung der Bilder. Dann der auf visueller Ebene angesiedelte emotionelle Ausdruck des Stummfilms im Allgemeinen und des expressionistischen Plateaus im Mabuse im Besonderen, die unbestreitbar Einfluß auf die Komposition nahmen. Schließlich die allgemein gern zum Visuellen hin beschriebene assoziative Kraft von zeitgenössischer Musik, bei der häufig altbewährte Kriterien zum Verständnis des Gehörten versagen und jedem Hörer Raum bieten für eigene Interpretationen, die fast immer verbunden sind mit bildhaften Vergleichsmustern.
Die aber wohl wichtigste Erfahrung war, daß große Abschnitte der Ensemblestücke orchestral wirkten und eine Umarbeitung für den größeren Klangkörper geradezu verlangten. Zum ersten Mal konnte ich mir eine Farbigkeit vorstellen, die nur ein Orchester leisten kann, und ich entschloß mich, das Risiko einzugehen, aus Teilen der Filmmusik ein Orchesterstück zu komponieren.
Dabei handelt es sich nicht allein um eine Bearbeitung im Sinne einer Suite, was zahlreiche Komponisten von Filmmusiken schon vor mir getan haben und die fast immer der Dramaturgie des Filmes in geraffter Form folgen, sondern vielmehr um eine konzeptionelle Erweiterung hin zu einer Eigenkomposition. Die Auswahl und Koordination einzelner Abschnitte der Filmmusik wie auch die umfangreiche Überarbeitung der harmonischen Gesamtkonzeption folgte nun Kriterien absoluter Musik. Die für die ausgewählten Teile der Filmmusik charakteristischen musikalischen Inhalte mußten nun losgelöst vom Film auf ihre Eigenständigkeit geprüft und in ein neues Gesamtkonzept sinnfällig eingefügt werden.
Dabei entstand eine zweiteilige Komposition, die in erster Linie auf Kontrastlagen beruht. Im ersten Teil dominieren in kleinste Partikel motivisch aufgelöste große Klangflächen-Schwebezustände, die zum Teil in langen Entwicklungsbögen, ausgehend von Einzelmotiven, allmählich erreicht werden. Im zweiten Teil herrschen metrisch geordnete Strukturen vor, deren musikalischer Höhepunkt mit Hilfe einer Art Passacaglia erreicht wird. Der Kreis schließt sich durch ein großes Ritardando gepaart mit einem Klaviersolo: Der folgerichtige metrische Stillstand greift den klanglichen Schwebezustand des Beginns wieder auf, wobei eine Apotheose über einen Einzelton als musikalische Antwort auf den zu Beginn sich fast über fünf Oktaven erstreckenden Ausgangsklang die Komposition beendet.
Poèmes für großes Orchester ist wie viele meiner Kompositionen ein Versuch über musikalische Sprache, ihre Gestik und ihre unendlich große Vielfalt emotioneller Ausdrucksmöglichkeiten.
(Michael Obst)