Michael Obst (*1955) Miroirs
[6Singst] 1989 Dauer: 11'
6 Vokalisten (SSMezTBarB)
Uraufführung: Donaueschingen (Donaueschinger Musiktage), 21. Oktober 1989
Miroirs »...keine Zeit für Menschlichkeit«
Auf dieses Wort stieß ich bei der Lektüre des außergewöhnlichen Buches »Der ferne Spiegel« von Barbara Tuchuran, der erst vor kurzem verstorbenen amerikanischen Historikerin. Sie zeichnet auf besonders anschauliche Weise ein umfassendes Bild vom 14. Jahrhundert, einem Leitalter, in dem die Bevölkerung Europas kurz vor dem Einsetzen der Renaissance neben den verfallenden Weltvorstellungen des Mittelalters und den politischen wie ökonomischen Wirren mit der schlimmsten Seuche der Menschheitsgeschichte zurechtkommen mußte: der Pest. Unter schwierigen Lebensbedingungen, die - verglichen mit der heutigen Zeit - fast wie die einer fremden Zivilisation anmuten, waren die Menschen ihrem Schicksal hilflos ausgeliefert. Die Seuche, welche fast ein Drittel der europäischen Bevölkerung dahinraffte, verursachte eine dramatische Eskalation der Mißstände, die schon in der Zeit vor der Pest angelegt waren: wirtschaftliches und politisches Chaos, Niedergang der Moral, Verschwendungssucht, religiöse Hysterie, Habgier und Geiz, um nur einige zu nennen. Selbst die Kirche, durch Glaubensfehden und Schisma innerlich zerrissen, bot keinen Halt; Menschlichkeit und soziales Engagement hatten es schwer gegen Egoismus, Herrschsucht und Verfall jeglicher Ordnung.
Parallelen zum 20. Jahrhundert mit seinen zwei Weltkriegen erscheinen offensichtlich, wobei Barbara Tuchman zu Recht darauf hinweist, daß die Menschen im 14. Jahrhundert Schlimmeres durchzumachen hatten. Auf mich wirkt die Beschreibung dieses Zeitalters aber auch als Beispiel und Mahnung. Im ausgehenden 20. Jahrhundert hat sich zu der aufgrund der Bevölkerungsentwicklung unsicheren Zukunft mit ihren möglichen ökonomischen und politischen Folgen, aber auch zu der immer noch bestehenden Gefahr atomarer Vernichtung, die Angst vor den Auswirkungen der Umweltzerstörung, die entgegen jeglicher Vernunft ständig Weiterbetrieben wird, hinzugesellt. Da sich der Mensch im Lauf der letzten sechshundert Jahre in seinem Wesen und seiner Handlungsweise mit Sicherheit nicht verändert hat, liegt es nahe, daß der Blick auf die Geschehnisse des 14. Jahrhunderts nicht nur dem in einen »fernen Spiegel« der Geschichte, sondern auch dem in eine mögliche Zukunft vergleichbar ist.
Die Gedichte
Die Aufgabe, eine Komposition für Vokalensemble zu schreiben, kam zu einer Zeit, in der meine Gedanken um eben diese Dinge kreisten. Es schien mir folgerichtig, nach Gedichten des späten Mittelalters zu suchen, die sich mit den oben beschriebenen Gegebenheiten auseinandersetzten. Ich grenzte mein Interesse auf Nordfrankreich ein, das ein Zentrum des politischen und kulturellen Geschehens in Europa war. Überraschenderweise gestaltete sich die Suche nach entsprechenden Gedichten schwieriger als erwartet. Die Wirren jener Zeit finden kaum Niederschlag im künstlerischen Schaffen der Trouveres, vielmehr herrscht höfische Kunstlyrik und Lyrik bürgerlich-städtischer Stände vor. Die Dichtung jener Zeit hatte offensichtlich die Aufgabe, aus Kompensationsgründen den äußeren Katastrophen eine bewußt idealisierte Lebensüberhöhung entgegenzusetzen.
Eine Ausnahme bildet der in Paris lebende Rutebeuf (um 1275), ein Dichter niederer Herkunft, der mit der traditionellen höfischen Dichtung gebrochen hat und als wichtigster Satiriker Frankreichs auf die Probleme der Zeit eingeht. Das Gedicht „La complainte Rustebuef macht - trotz seines überzeichnenden Gestus in der Darstellung der persönlichen Misere - die Bedrohlichkeit und Negativität von Rutebeufs Lebensumständen deutlich; darum habe ich es ins Zentrum meiner Komposition gestellt. Mit ihm verbunden habe ich zwei gesellschaftskritische Gedichte des späten 13. Jahrhunderts und je eines aus dem späten 14. und dem mittleren 15. Jahrhundert, in denen die Beschreibung der eigenen seelischen Notlage auf das Fehlen eindeutiger geistiger Orientierungsmöglichkeiten in jener Zeit schließen läßt. Bei den ersten beiden handelt es sich um Werke zweier Dichter unterschiedlicher gesellschaftlicher Herkunft.
Jacques de Cysoing, ein adeliger Lyriker aus Flandern, polemisiert in seinem Gedicht »Li nouviaus tans« gegen den Verfall ritterlicher Tugenden in höfischen Kreisen. Der aus Arras stammende bürgerliche Adam de la Halle konkretisiert seine Klage über den Niedergang der Moral damit, daß er in dem Gedicht ~•E, las, i n'est mais nus ki aint« die galante Damenwelt vor der wachsenden Anzahl falscher Liebhaber warnt.
Im Vergleich dazu wesentlich subjektiver sind die beiden später entstandenen Gedichte gehalten. Christine de Pisan, die erste bedeutende Lyrikerin Frankreichs, beschreibt in »Je chante par couverture«, wie groß die Distanz zwischen eigenem Erleben und überkommener höfischer Tradition geworden ist. Demgegenüber sind in dem um 1450 entstandenen Gedicht »En tirant d'Orléans a Blois« von Charles d'Orléans schon Tendenzen hin zur Dichtung der Renaissance erkennbar. Ähnlich wie Christine de Pisan (Virelai) verwendet er eine tradierte Form (Rondeau), mit deren Hilfe er eine Schiffahrt auf der Loire beschreibt, die metaphorisch seinen melancholischen Seelenzustand und die ihm als ausweglos erscheinende Situation seines Lebens widerspiegelt.
Außer Rutebeufs »Complainte« sind alle ausgewählten Gedichte Lieder, die von ihren Autoren vorgetragen wurden. Die Melodiestruktur der einzelnen Strophen war fest verknüpft mit dem formalen Aufbau der Texte und ordnete sich gängigen Liedgattungen unter (Balade, Rondeau, Virelai etc.). Sie bewegten sich ausnahmslos im tänzerischen 3/4- bzw. 6/8-Takt, bezogen ihre Tonhöhen aus einem sehr begrenzten Tonvorrat (Kirchentonarten) und waren durch Wiederholungen und Variationen weniger melodischer Elemente gekennzeichnet. Bilden die Gedichte von Jacques de Cysoing und Adam de la Halle noch eine Einheit bezüglich der Konzeption von Text und Melodie, so zeigt die eigenständige poetische Gewichtung des Textes bei Christine de Pisan und Charles d'Orléans, daß diese beiden Autoren die tradierte Liedform als Mittel für virtuose Dichtkunst betrachten.
MIROIRS - eine Synthese
Bei der Verwendung dieser Textvorlage erschien es mir notwendig, die mit ihr verbundenen historischen musikalischen Stilmittel zu berücksichtigen. Das bedeutete unter anderem, die tänzerische Grundhaltung in den rhythmischen Aufbau des Stückes einzubeziehen. Entgegen der gleichförmigen Metrik der Trouvèremelodien, die oftmals unnatürliche Betonungen im Sprachablauf mit sich bringt, folgte ich metrisch in den Stimmen, welche die fortlaufenden Texte enthalten, dem natürlichen Sprachfluß. Das führte zu einer »schwebenden« Metrik mit häufigen Taktwechseln, der immer noch der tänzerische Charakter innewohnt. Entsprechend verfuhr ich bei der harmonischen Konzeption. Den Kirchentonarten entlehnt entwickelte ich Skalen, die in eng gefaßten Tonbereichen diatonische Melodieabläufe ermöglichten. Der intervallbezogene Aufbau der Skalen und deren Wiederholung hinein in größere Tonumfänge gaben mir jedoch die Freiheit, mit dissonanten Harmoniestrukturen arbeiten zu können.
Strukturell dominieren auf weiten Strecken Symmetrien, die sich in mehreren Ebenen wiederfinden lassen. Am augenfälligsten sind sie im zyklischen Aufbau der Gedichtfolge und den jeweiligen dynamischen Hüllkurven:
Li nouviaus tans (f→ p)
La complainte Rustebuef I (mf/mp)
E, las, i n'est mais ... (mf-f)
La complainte Rustebuef II (mf → ff)
La complainte Rustebuef III (mp→ pp)
Je chante par couverture (mp - p)
La complainte Rustebuef IV (mp/p)
En tirant d'Orleans a Bloss (p→ f)
Symmetrien und Spiegelungen bestimmen auch das harmonische und rhythmische Gefüge. So besteht zum Beispiel »Li nouviaus tans« aus einer Akkordfolge, deren Einzelakkorde in ihrem intervallischen Aufbau zwischen Alt und Tenor gespiegelt sind. Mit anderen Worten: die Intervallabstände zwischen Sopran I, Sopran II und Alt sind immer umgekehrt zu denen zwischen Tenor, Bariton und Baß. Darüberhinaus wurde in der zweiten Hälfte des Liedes die Akkordfolge im Krebs zum Gang der ersten Hälfte geführt. Zur weiteren Demonstration von Spiegelungen mag folgendes Beispiel aus »La complainte Rustebuef III« dienen: die Summe der Tondauern in den Melodieabschnitten, die den jeweiligen Verszeilen entsprechen, ergibt - in Achtelnoten gemessen - eine symmetrische Zahlenfolge:
14-11-7-13-10-7-12-9-6-9-12-7-10-13-7-11-14
Die Melodie folgt der im Mittelalter gängigen Barform und benutzt in ihrem Tonumfang ausschließlich vier Tonhöhen in symmetrischem Intervallabstand (Tetrachord: Ganzton-Halbton-Ganzton).
Die Verwendung solcher Satztechniken hat ihren Ursprung im konzeptionellen Ansatz zur Komposition von MIROIRS. Dabei enthielt ich mich ganz bewußt experimenteller Stilmittel, da diese mir angesichts der inhaltlichen Vorlage nicht sinnvoll erschienen. Ich dachte an eine Musik, die in ihrem Aufbau festgefugt ist, vergleichbar mit mehrstimmiger Vokalmusik bis zur Klassik. Demgegenüber sollte durch die Einbettung der Hauptstimme(n), welche die Textvorlage trägt, in eine harmonisch und rhythmisch kontrastierende Umgebung der Eindruck von Unschärfe (bildlich gesprochen) erreicht werden - Unschärfe als Metapher für die zeitliche Distanz, die zwischen uns und der Entstehung der mittelalterlichen Gedichte liegt. Aber auch Deutung im emotionalen Sinn ist gemeint; die in den Gedichten enthaltenen Gefühlsebenen sind trotz der fremdartigen Sprache (Alt- und Mittelfranzösisch) auch heute noch nachvollziehbar. Assoziationen, die durch sie ausgelöst werden, sind dem heutigen Erlebnisbereich angepaßt, ihre emotionelle Grundhaltung ist aber gleich geblieben.
(Michael Obst)