Michael Obst (*1955) Dr. Mabuse, der Spieler
Musik zu dem Stummfilm von Fritz Lang (1922) [Ens] 1990-93
Uraufführung Teil 1: Köln, 31. März 1991
Uraufführung Teil 2: Paris, 30. Oktober 1993
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Meine erste Berührung mit dem Film hatte ich vor einiger Zeit, als ich im Auftrag des Südwestfunks ca. 12 Minuten elektronische Musik für ein Fernsehspiel von 75Minuten Dauer beisteuerte. Es handelte sich um die Geschichte eines Studenten, der über Mozart forscht und schließlich ein ähnliches Ende erleidet wie der Meister. Ich empfand das Resultat als ziemlich frustrierend, da der größte Teil meiner Komposition nach der Endabmischung kaum mehr zu hören war. Um so mehr reizte es mich, mit der Komposition einer Filmmusik für Dr. Mabuse eine Aufgabe zu übernehmen, bei der mein Beitrag volle Geltung haben würde. Die Musik zum Stummfilm verläuft ja in zeitlicher Kontinuität völlig gleichberechtigt zur Bildebene. Im Falle von Dr. Mabuse, genauer seines ersten Teils, den ich komponierte, bedeutet das zwei Stunden und 27Minuten! Mich schreckte dieses Mammutprogramm nicht so sehr, da ich sowieso eine abendfüllende Arbeit, vergleichbar mit einem Bühnenwerk, übernehmen wollte. Zudem faszinierte mich ein derartiges Projekt aufgrund weiterer Aspekte: So hat mich das Medium Film von jeher interessiert. Ich bin offen für neue Entwicklungen im Videobereich, das Visuelle ist mir keineswegs gleichgültig. Ferner wollte ich das angewandte Prinzip des Musizierens erproben, vor allem unter der strengen Bedingung, daß die filmische Form bereits vorgegeben ist. Und schließlich war die ungewöhnliche Aufgabe, zu einer historisch abgeschlossenen Kunstgattung eine Interpretation aus heutiger Sicht zu geben, für mich eine große Herausforderung.
Abgesehen von solchen Erwägungen ist es immer reizvoll, für das Ensemble Modern zu komponieren. Da ich die Musiker persönlich kenne, konnte ich die spieltechnische Umsetzung meiner musikalischen Ideen genau kalkulieren. Ich bekam keine Vorgaben hinsichtlich der instrumentalen Besetzung. Aber da Fritz Langs Film ein monumentales Werk darstellt, war es geboten, mit größerem klanglichen Aufwand zu gestalten. Meine Disposition für 26 Spieler stellt die größtmögliche Besetzung für das Ensemble dar. Andererseits hätte ich nicht für ein Orchester komponieren wollen; dieser Apparat ist mir zu unflexibel, zu unfilmisch. Die Interpreten meiner Partitur werden häufig solistisch eingesetzt, kein Mitglied des Ensembles hat das Gefühl, als Tutti-Musiker zu fungieren. Außerdem frage ich mich, wie ein normales Orchester bestimmte Passagen bewältigt hätte, da ich zeitweise geräuschartige Instrumentalklänge anwende, die auf unkonventionelle Weise (insbesondere vom Schlagzeug) erzeugt werden. Von Anfang an war ich von der Bildsprache dieses Klassikers begeistert, die aus der stummen Ästhetik des „Lichtspiels“ resultiert. Das Atmo¬sphärische des gestisch verlangsamten Spiels der Darsteller und die besondere Erzählkunst der Kamera berührte mich. Eindrücke mit solcher Dominanz des Visuellen erhielt ich von keiner anderen Kunstform. Durch intensives Studium des Films ermittelte ich seine Großform und die entsprechenden Untergliederungen. Vor allem eruierte ich drei Schlüsselsequenzen, auf die die filmische Handlung strikt ausgerichtet ist, so daß in ihnen die Geschichte des Dr. Mabuse kulminiert:
I.Mabuses Börsen-Coup zu Anfang des Films, der erstmals seine „kriminellen Energien“ offenbart.
II.Mabuses Versuch, seinen Gegner, Staatsanwalt von Wenk, zu hypnotisieren - eine Art Duell, das den erbitterten Kampf der Rivalen eröffnet.
III.Der Sieg des Bösen gegen Schluß: Mabuse entführt die begehrte Gräfin Told und nimmt sie in Besitz.
Bei der musikalischen Konzeption ging es mir vor allem um eine Deutung der Stimmung dieser Filmpassagen, d.h. die Auslotung ihres emotionalen Gehalts (bzw. meiner eigenen emotio¬nalen Reaktion). Insofern hatte ich nicht den Ehrgeiz, gegen die Bilder zu „argumentieren“ (was manche Komponisten als ihre Aufgabe betrachten). Mir erschien es auch nicht sinnvoll, mit Leitmotiven zu arbeiten. Bei der beachtlichen Länge des Films fürchtete ich eine Abnutzung ihrer Wirkung. Die atmosphärische Behandlung der drei Schlüsselszenen möchte ich kurz skizzieren:
I. Die Sequenz des Börsenschwindels demonstriert das verbrecherische Kalkül mit dem Faktor Zeit (Fritz Lang zeigt wiederholt Taschenuhren). Ich bemühte mich, das suggestive timing der Sequenz durch dominant rhythmisch strukturierte Passagen, parallel zur Montage des Films, zu verdeutlichen.
II. Mabuse will von Wenk hypnotisieren. Das Filmtempo wird zeitlupenartig. Wenks Verwirrung und Widerstand versuchte ich musikalisch zu interpretieren, indem ich die Klänge gleitend in Geräusche überführe.
III. Einen atmosphärischen Kommentar gebe ich schließlich zur Finalsequenz. Mabuse bemächtigt sich der Gräfin. Seine Gewalttätigkeit findet Ausdruck im beherrschenden Einsatz des Schlagzeugs.
Ich komponierte nicht tonal, sondern atonal. Allerdings zitiere oder kopiere ich häufiger Stil- und Klangformen der zwanziger Jahre, wenn auch nicht wörtlich, sondern verfremdet. So behält ein Preußenmarsch etwa seine Melodie, aber die atonalen Harmonien und die Schlagzeugbegleitung brechen den Effekt. Ähnlich handhabte ich die Musik der Bars und Tanzlokale.
Da der Film zwischen gleichsam rezitativischen und ariosen Phasen alterniert, d.h. im Wechsel von vorbereitenden oder Überleitungs- und von Höhepunkt-Szenen abläuft, traf ich eine entsprechende Disposition für die musikalische Großform. Ich entschied mich dafür, die drei Schlüsselsequenzen mitvollem Ensemble zu begleiten, während eine Klavier/ Schlagzeug-Gruppierung die Zwischenphasen kommentiert. Diese letztere Formation handhabte ich variabel: zwei Klaviere häufig für die Damen Carozza und Told, drei Schlagzeuger für Mabuse und seine irreale Aura, für die übrigen rezitativischen Passagen alle fünf kombiniert. Zeitlich ergeben sich folgende Verhältnisse:
1. Ensemble 22 Minuten
Klavier/Schlagzeug 52 Minuten
II. Ensemble 27 Minuten
Klavier/Schlagzeug 20 Minuten
III. Ensemble 26 Minuten
Michael Obst erläuterte seine Komposition am 15. März 1991 in einem Gespräch mit Lothar Prox, der diese „Anmerkungen zur Musik“ aufzeichnete und redigierte.
CD (aus Teil II: Inferno):
Ensemble Intercontemporain, Ltg. David Robertson
CD ircam 90 (008)
Fernsehproduktion:
Dr. Mabuse, der Spieler
ARTE 1996
Bibliographie:
Prox, Lothar: Stummfilm und Neue Musik. Michael Obsts Musik zu „Dr. Mabuse, der Spieler“, in: Neue Zeitschrift für Musik 2/1994, S. 47-49.