Isabel Mundry (*1963) Gesichter
[S,Spr,Schl(2),Live-Elektronik] 1997 Dauer: 26'
UA: Donaueschingen (Donaueschinger Musiktage), 18. Oktober 1997
Gesichter ist eine Wort-Musik-Komposition, die sich von beiden Seiten ihrer Entstehung genähert hat. So stand am Anfang eine von mir ausführlich beschriebene musikalische Idee, die Yoko Tawada dazu veranlaßte, ohne Vorgabe eines Inhalts den Text „GesICHter“ zu schreiben, der wiederum den Ausgang bildete für das Schreiben der Musik.
Doch gerade der Versuch, Sprache und Musik in einen produktiven Dialog treten zu lassen, mündete gleichsam in der Erkenntnis, daß dieser Dialog nur dann möglich ist, wenn die Differenz akzeptiert und gewürdigt wird.
In diesem Sinne ist „Gesichter“ keine Textvertonung. Vielmehr ist die Komposition eine musikalische Reflexion über den Text, die zwar gelegentlich Worte oder Sätze des Textes enthält, aber an anderen Stellen auch andere Sprachgebilde entwickelt. Dies können Wortfragmente sein wie auch Silben, Buchstaben oder neue Wortfolgen, die sich aus der Struktur der Musik ergeben. Zum Beispiel:
„tanz nur so wenn ich sag
nachts und sonst wem nichts ganz
nah du rot wer sieht angst
auch rund form weg in sand
kaum rand mehr weiß wie nah“
Und schließlich können die Worte des Textes auch die Abwesenheit von Worten in der Musik entstehen lassen.
Ein wesentlicher Gedanke, der allen musikalischen Zusammenhängen zugrundeliegt, ist der einer (gebrochenen) Spiegelung.
Sie findet sich allein in der Besetzung und der räumlichen Positionierung der Spieler als auch in den vielfältigen Versuchen, Klanganalogien zwischen den Spielern zu entwickeln und die Klänge im Raum zu bewegen, widerzuspiegeln und langsam zu verändern.
Und ausschließlich hierin liegen der Bedarf und die ausdifferenzierte Anwendung der Elektronik. Die Lautsprecher und einige weitere imaginäre Raumpunkte sind mit Spiegeln vergleichbar, die immer wieder ihren Winkel verändern. Sie dienen der räumlichen Reflexion klanglicher Ereignisse, und jeder der Spieler durchläuft im Laufe der Komposition einen präzise auskomponierten Weg durch ein Labyrinth von Spiegeln. Die Entstehung der Komposition war begleitet von zahlreichen Fragen und einem intensiven Austausch mit allen Beteiligten. Hierfür möchte ich mich ausdrücklich bedanken, bei den Musikern, den Mitarbeitern des Studios der Heinrich-Strobel-Stiftung und nicht zuletzt bei Yoko Tawada, der die Musik in jeder einzelnen Zeile gewidmet ist.
(Isabel Mundry)
CD:
Salome Kammer (Sprecher), Claudia Barainsky (Sopran), Christian Dierstein und Francoise Rivalland (Schlagzeug)
CD col legno WWE 3 CD 20025