Siegfried Matthus (1934–2021) Konzert für 3 Trompeten und Streichorchester
„Frühling läßt sein blaues Band“ [3Trp,StrOrch] 1989/90 Dauer: 22'
Soli: 3Trp – Str
UA: Kiel, 7. Juli 1990
In diesen aufregenden Zeiten zu leben, empfinde ich dankbar als eine menschliche, moralische und künstlerische Herausforderung.
Die Grenzen sind gefallen. Nach dem großen Jubel darüber gibt es bei vielen Menschen jetzt neben den Hoffnungen auf die Zukunft auch Bestürzung und Angst. Das Nachdenken über und das Suchen nach der eigenen Identität drängt sich auf. Wie baut man die Brücke zwischen dem Gestern und dem Morgen?
Den wunderbaren Trompeter Johannes Läubin lernte ich vor Jahren als Solisten meines Konzertes für Trompete, Pauken und Orchester kennen. Seine große Musikalität, seinen schönen schlanken Ton und seine virtuose Leichtigkeit konnte ich in einem Konzert des NDR, das auch auf einer Schallplatte festgehalten ist, bei einer abenteuerlichen kurzfristigen Übernahme meines Stückes bei der Staatskapelle Berlin und einer Aufführung bei dem Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks bewundern. „Er bläst Ihr schwieriges Stück wie auf einer Flöte“, sagte der Dirigent Charles Dutoit über ihn. Johannes Läubin bat mich um ein Stück für drei Trompeten für ihn und seine Brüder.
Im Herbst 1989 begann ich mit der Arbeit. Konzipiert hatte ich fünf kontrastreiche Abschnitte. Eine breit fließende Intrada, ein dramatisches Agitato, ein hektisch virtuoses Scherzo, ein melodisch weit ausschwingendes Adagio und ein bewegtes Finale. Die streng musikalisch erdachten formalen, harmonischen und melodischen Abläufe lagen vor mir, die ersten Skizzen waren entworfen - und doch, so spürte ich, fehlte dem Stück noch eine inspirierende umfassende Idee.
Die revolutionären Ereignisse des Herbstes 1989 erlebte ich neben meiner Arbeit sehr bewußt und nahm auch aktiv daran teil. In der Nacht des 9.November 1989 stand ich an der Berliner Mauer - das Würgen im Halse nur mühsam unterdrückend und verstohlen die Augen wischend: Welch namenlose Freude! Am nächsten Tag begannen meine musikalischen Skizzen, von einem geheimen Impuls beflügelt, sich in eine neue Richtung zu entwickeln. Das Librettozitat aus Beethovens „Fidelio“ ging mir während der Arbeit nicht aus dem Sinn, und ich wählte es als Titel für meine Komposition.
Im Frühjahr 1990 fertigte ich die Reinschrift meiner Partitut an. Die Realität des Alltags mit den neuen Sorgen und Ängsten hatte die wunderbaren Tage des November stark verblassen lassen. Vor der Titelseite sitzend, zögerte ich sehr und überlegte lange, ob ich diese, mir aus dem Erlebnis spontan zugeflogenen, aber völlig unreflektierten Worte meiner Partitur voranstellen sollte.
Ich habe es dennoch getan: Zur Erinnerung an einmalige und unvergeßliche Augenblicke dieses Jahrhunderts, die ich miterleben durfte.
Siegfried Matthus