Siegfried Matthus (1934–2021) Flötenkonzert
[Fl,Orch] 1978 Dauer: 25'
Solo: Fl – 3(3Picc).1.Eh.2.B-Klar.1.Kfg. – 0.0.3.0. – Pk.Schl(3) – Hfe – Str
Uraufführung: Leipzig, 11. Januar 1979
Fünfzehn Jahre sind seit dem vielgespielten „Kleinen Orchesterkonzert“ (1963) vergangen, und in dieser Zeit hat Siegfried Matthus konzertante Instrumentalmusik in verschiedenster Form und Besetzung zu einem Schwerpunkt seines Schaffens entwickelt. Insbesondere seit Ende der sechziger Jahre schrieb er Solokonzerte für die „klassischen“ Virtuoseninstrumente Violine, Klavier und Violoncello - jeweils angeregt durch entsprechende Wünsche bedeutender Interpreten und entsprechend dem instrumentalen Charakter individuell konzipiert. Dies gilt auch für das neue Flötenkonzert, das von April bis Oktober 1978 komponiert und am 11. Januar dieses Jahres von Karlheinz Zoeller, dem 1. Soloflötisten der (West-) Berliner Philharmoniker, mit dem Gewandhausorchester Leipzig unter Kurt Masur uraufgeführt wurde. Entsprechend dem begrenzten Klangvolumen der Flöte, die im zweiten und vierten Satz mit der Altflöte alterniert, hat der Komponist die Bläserbesetzung kammermusikalisch reduziert. Neben drei Orchesterflöten und drei Posaunen (sie werden überwiegend auch als Gruppe eingesetzt) wirken nur noch sieben weitere Holbläser mit; Hörner und Trompeten bleiben ausgespart. Dagegen ist das Schlagwerk besonders für differenzierte Geräuscherzeugung reich bestückt. Während das Werk im Timbre an das „Kleine Orchesterkonzert“ anzuknüpfen scheint, erinnert es in der Großform an das Violinkonzert. Es hat fünf Sätze und einen konzentrischen Aufbau. Jeder Satz basiert auf klanggegliederter, durch Reprisen abgerundeter, drei- bzw. vierteiliger Architektur. Matthus arbeitet frei mit der Reihentechnik und verbindet sie gelegentlich mit tonalharmonischen Bildungen. Eine verbindliche Grundreihe gibt es nicht; stattdessen fußt das thematische und harmonische Gefüge eines Satzes auf je einer spezifischen Tonreihe. Beispielsweise bilden 6 sechsstimmige Streicherakkorde am Beginn des ersten Satzes ein solches Grundmaterial.
Kopfsatz und Finale ähneln einander in der gewissermaßen subjektiv erfühlten, widersprüchlich gespannten, zu dramatischen Höhepunkten gesteigerten Klang-Situation. In beiden Sätzen herrschen starke Gegensätze und ein rhetorischer Gestus, der sich bis hin zu konfliktgeladenen Solo-Tutti-Rezitativen zuspitzt. Den zweiten und vierten Satz hat Matthus, nicht ohne zarte Ironie, mit „Pastorale I“ und II überschrieben. Hierbei handelt es sich um fein ziselierte Klangminiaturen, nach Art der Genrebilder oder Stilleben, die mit gleichsam objektiver, distanzierter, unterkühlter Haltung komponiert wurden und in sowohl abgedämpften wie fremdartigen Farben wohl auch „Bilder vom stillgestellten Leben“ heißen könnten. Denn in diesen „Pastoralen“ sucht man vergebens nach Anklängen an eine beschaulich-harmonische Lebensweise „auf dem Lande“. Eher schon fühlt man sich im ersten Stück einsam durch eine Müllandschaft wandern und im zweiten in eine Idylle entrückt, deren lockende Reize im näheren Zusehen und Hinhören verblassen und wenig mehr zurücklassen als das Gefühl der Ernüchterung, inmitten schön gemalter Kulissen die wirkliche Schönheit des Lebens verspielt zu haben. Nicht zuletzt steht als Inkarnation solchen Lebensdurstes, als ein Symbol vitaler, aktiver Krafterprobung im Gegensatz zur pastoralen Kontemplation, in der Mitte des Werks ein Scherzosatz in Variationenform. In ihm entfalten sich die virtuosen, aktivistischen Potenzen des Solisten besonders markant - aber dramaturgisch gesehen auch ohne nennenswerte Widerstände und Gegenkräfte. Sie bleiben, wie gesagt, den Ecksätzen vorbehalten. Dort sorgen sie für das sinfonische Gewicht des Konzerts und lenken das Ohr des Hörers darauf, die Spielenden nicht nur für Spieler zu nehmen, sondern für Akteure, deren Aktionen im Mit- und Gegeneinander der Stimmen soziale Verhaltennweisen, reale Vorgänge und Stimmungen modellieren.
Einführung von Dr. Frank Schneider
(aus dem Programmheft der Aufführung in der Komischen Oper am 19. Februar 1979, anläßlich der VII. Biennale, Berlin 1979
Orchester der Komischen Oper, Solist: Werner Tast, Dirigent: Joachim Willert)