Hanspeter Kyburz (*1960) The Voynich Cipher Manuscript
[24Singst,Ens] 1995 Dauer: 25'
6S6A6T6B – Fl(Picc.AFl.BFl).Ob(Eh).2Klar (B-Klar.Klar[Es]) – 2Hn.Trp.Pos – Schl(3) – Klav(Cel) – 2Vl.Va.Vc.Kb
Uraufführung: Donaueschingen (Donaueschinger Musiktage), 22. Oktober 1995
Das 232 Seiten umfassende Voynich Manuskript ist in einer bis heute nicht entzifferten Geheimschrift geschrieben: die renommiertesten Dekodierer scheiterten ebenso wie jahrelange computerlinguistische Forschungen, obwohl alle strukturellen Gesichtspunkte auszuschließen scheinen, daß es sich um einen sinnlosen Text handelt.
Im 16. Jahrhundert wurde das Manuskript als vermeintliches „Lebenselixier“ für astronomische Preise gehandelt: der deutsche Kaiser Rudolf II kaufte es für 600 Golddukaten von dem berühmten, englischen Gelehrten Dr. John Dee, der als Hofastrologe, Geograph, Mathematiker, Nekromant und Spionagechef in einer Person später Shakespeares Modell für Prospero in The Tempest wurde. Die detalliert beschrifteten, phantastischen Illustrationen des Manuskripts zeigen unbekannte Blüten und Gewürze, Nymphen in einem wehverzweigten Netz aus Trichtern und Röhren, seltsame Erfindungen und Sternbilder, die es nicht gibt. Sie suggerieren einen medizinisch-astrologischen Sinn und haben wohl die meisten Forscher bei ihren Übersetzungsversuchen angeregt. Trotz der positiven Ergebnisse syntaktischer Analysen, der abenteuerlichen Quellengeschichte und der suggestiven Anschaulichkeit der Abbildungen ist es bis heute nicht gelungen, die Bedeutung dieses Textes und so den Erfahrungshintergrund des Autors zu rekonstruieren. Von den vielen fragmentarischen und spekulativen „Lösungen“, deren Widerlegungen nie lange auf sich warten ließen, habe ich einige Passagen als Textmaterial ausgewählt: Zahlenreihen, die die Sequenz der fremdartigen Buchstaben analysierbar machen sollten, auf diesen aufbauende lateinische und englische Silben- und Wortfolgen usw.
Gegenstand der Komposition ist so der Vorgang der Sinnkonstitution, in dem ein hermetisches Material sich auflöst in der doppelten Bewegung des Übersetzens, welche die vergleichende Annäherung an Vergangenes ebenso erfordert, wie die konstruktive Gestaltung neuer Zusammen¬hänge. Diese komplexe Dynamik des Übersetzens mit all ihren Unwägbarkeiten spielerisch zu erkunden ist der Grundgedanke des Stückes.
An drei zentralen Stellen werden zudem Gedichte von Velimir Chlebnikov in der Übersetzung von Oskar Pastior rezitiert. Chlebnikovs futuristisch-archaisierende „Sternensprache“, die zwischen abstrakten Konstruktionen und etymologischen Verdichtungen oszilliert, erforderte eine „alchemistische, mikrosynthetische Übersetzungsmethode“ (Pastior), die es ermöglichte, Chlebnikovs spracherneuernde Intentionen ebenso auszudrücken, wie seinen Hang zu Geheimnis und poetischer Verschlüsselung.
zeitgeschöhn binsgeschülf
uferseet über
da gestein zeitheit liecht
da leichzeit gneislich keit
uferseet unter
zeitgescheit binsgeschöhn
uferseet über
rauschicht geraunt
feurott go feurott
dir zum opfraß travmphahe
berühmtal ruttafänger –
solltu eine rotte freier
feurier mir zugesträuben
feurott go feurott!
fleuriote freinis zlugen
eine rotte fleuger feurier
daß aus finster nuner jetzen
feuer reggen bogen schlügen
erfahrendse
ischuschterbs
ein schtirren
schtorb
ischuschtamblns schäm
ischugrollans schwieg
ischublindins schtümm
ischutauppns schtein
ischuscheuhasts schwieg
ischumühelens schrie –
ischudein
ischudeins
(Hanspeter Kyburz)
CDs:
Südfunkchor Stuttgart, Klangforum Wien, Ltg. Peter Rundel
CD MGB CTS-M 52
Südfunkchor Stuttgart, Klangforum Wien, Ltg. Rupert Huber
CD col legno WWE 3CD 31898
Südfunkchor Stuttgart, Klangforum Wien, Ltg. Rupert Huber
CD Kairos 0012152 KAI
(Vierteljahresliste der Schallplattenkritik 4/2000)
SWR Vokalensemble Stuttgart, Klangforum Wien, Ltg. Rupert Huber
Musik in Deutschland 1950–2000
CD RCA 74321 73559 2
Bibliografie:
Hiekel, Jörn Peter: Parts und The Voynich Cipher Manuscript, in: Composers-in-Residence (Lucerne Festival, Sommer 2001), S. 176-183.