Hanspeter Kyburz (*1960) Cells
[Sax,Ens] 1993/94 Dauer: 28'
Solo: SSax/ASax/TSax/BarSax – Fl(Picc).Ob (Eh.SBfl).Klar(B-Klar) – Schl(2) – Klav – Vl.Va.Vc.Kb
Uraufführung der Erstfassung: Donaueschingen, 16. Oktober 1993
Wie kaum ein anderer Komponist seiner Generation konnte der 1960 geborene Hanspeter Kyburz in den letzten Jahren internationale Konzerterfolge erzielen. Cells gilt als – mehrfach erweitertes und überarbeitetes „Opus 1“ und steht am Anfang einiger geplanter Kyburz-Studienpartituren.
Das Stück Cells gehört zu den ersten Ergebnissen umfangreicher Experimente während der letzten zwei Jahre, in denen ich nach einer streng prozeßorientierten Syntax suchte. Mein kompositorisches Interesse galt nicht musikalischen „Objekten“ im weitesten Sinne: Abschnitten, Schichten, Stimmen, Gesten, Punkten, (Raum-) Klängen usw., sondern den komplexen, nichtlinearen Prozessen ihrer Entstehung.
Solche generativen Prozesse waren mit mir bekannten kompositorischen Methoden nicht zu erzeugen, in deren Zentrum u.a. die quasi-architektonische Anordnung des - wie abstrakt oder konkret auch immer definierten - Materials stand und nicht die Anschlußfähigkeit der Elemente. Erst die Systemforschungen innerhalb des Paradigmas der Selbstorganisation boten einen Theorierahmen, der es ermöglichte, die Entwicklung geeigneter kompositorischer Verfahren reflexiv zu beobachten. Der eingehenden Beschäftigung mit chaotischen, instabilen, lebenden, komplexen Systemen, mit fraktalem Wachstum, Netzwerken und ihrer soziologisch-wissenschaftstheoretischen Reflexion in Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme verdanke ich Einblicke in Prozeßtheorien, die die Differenzierung rhythmischer, dynamischer, tonräumlicher, instrumentatorischer und raumklanglicher Techniken wenn nicht ästhetisch legitimieren, so doch motivieren konnten. Allen diesen – irreversiblen – Prozessen gemeinsam ist das Phänomen der Emergenz: das plötzliche Auftreten neuer Ordnungen durch dynamische Abhängigkeiten zwischen den Komponenten. Auch musikalische Gestaltbildung wurde auf dieser Grundlage satztechnisch und formal beobachtbar. Der relationale Charakter selbstorganisierender Prozesse verhinderte dabei eine Verengung auf serielle Positivismen: parametrische Ordnungen waren eher ein abstrakter Grenzfall, da vor allem Beziehungen zwischen unterschiedlich komplexen, heterogenen musikalischen Elementen entwickelt werden sollten. Die formale Anlage der Cells wurde u.a. durch Jean Piagets genetische Analyse des räumlichen Denkens angeregt. Ohne diese buchstäblich auf kompositorische Sachverhalte übertragen zu wollen, war doch eine ihrer Grundthesen für mich evident: „Die Anschauung des Raumes ist kein Ablesen der Eigenschaften der Gegenstände, sondern vielmehr von Anfang an ein auf die Gegenstände ausgeübtes Handeln.“ Piagets ontologische Skepsis, seine konstruktivistische Vorstellung einer durch Wahrnehmung und Vorstellung aktiv erzeugten Wirklichkeit konvergierte meinem Interesse an selbstorganisierenden ernergenten Strukturen. In den drei Sätzen der Cells erzeugen die Spielaktionen der im Raum verteilten Instrumentalisten (Solosax, Fl, KI, Ob, Sz, Pf, VI, Va, Vc, Kb) instabile rhythmische, dynamische, klangliche und räumliche Prozesse. In der Gewißheit, daß ihnen ihre Abstraktion, in der sie nicht erfunden wurden, wieder genommen wird, möchte ich das Stück Marcus Weiss und dem „ensemble recherche“ widmen.
(Hans-Peter Kyburz)
CDs:
Marcus Weiss (Saxophon), Klangforum Wien, Ltg. Peter Rundel
CD MGB CTS-M 52
Johannes Ernst (Saxophon), Ensemble United Berlin, Ltg. Peter Hirsch
CD col legno WWE 31890
(Teil 1-3)
Marcus Weiss (Saxophon), Ensemble Recherche, Ltg. Peter Rundel
CD col legno WWE 12CD 312899 (75 Jahre Donaueschinger Musiktage)
Bibliografie:
Griffiths, Paul: Modern Music and After, 3rd edition, Oxford University Press 2010, S. 392.
Handschick, Matthias: Musik als „Medium der sich selbst erfahrenden Wahrnehmung“. Möglichkeiten der Vermittlung Neuer Musik unter dem Aspekt der Auflösung und Reflexion von Gestalthaftigkeit (= Schriften der Hochschule für Musik Freiburg 3), Hildesheim u. a.: Olms 2015, dort S. 194-199.
Schröder, Julia H.: Chaos und Fraktale, in: Dokumente zur Musik des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Helga de la Motte-Haber, Lydia Rilling und Julia H. Schröder, Teil 1 (= Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert, Band 14/1), Laaber: Laaber 2011, S. 188f (mit einem Teilabdruck des Werkkommentars von Hanspeter Kyburz).
Supper, Martin: A Few Remarks on Algorithmic Composition, in: Computer Music Journal 25 (2001), Heft 1 (Frühjahr), S. 48-53.