Werner Jacob (1938–2006) Graf Öderland
4 Szenen [S,Bar,Orch] 1985/86 Dauer: 18'
Soli: SBar – Picc.3(Picc.2A-Fl.Blfl).3(Eh).3(B-Klar).T-Sax.3(Kfg) – Schl(3) – 2Hfe – Klav.Cel – Str
UA: Nürnberg, 1988
Anmerkungen von Werner Jacob: Zu sich selbst und zu seiner Oper
(aus einem langen Gespräch mit Musikdramaturgin Anja Weigmann)
Als ich 1956 aus meiner thüringischen Heimat nach Freiburg/Breisgau zum Studium kam, hatte ich einen riesigen Nachholbedarf an neuer Literatur. Die literarische Bewältigung des Krieges und der Nachkriegszeit, die ich als Kind noch sehr bewußt erlebt habe, beeindruckte mich zwar in Werken wie Anna Seghers »Das siebte Kreuz« oder in Beispielen aus dem, sozialistischen Realismus wie »Der stille Don« oder »Wie der Stahl gehärtet wurde«, aber erst in Borcherts »Draußen vor der Tür« und Max Frischs »Nun singen sie wieder« fand ich Aussagen zu dieser Problematik, die für mich Gültigkeit hatten. Besonders Frischs Requiem wurde ein Schlüsselstück für mich: es zeigt die Unsinnigkeit des Krieges, des sinnlosen Völkermordens...
Musikalisch war ebenfalls viel aufzuholen: an neuer Musik war außer Werken von Schostakowitsch und Chatschaturjan gerade noch Bartóks »Mikrokosmus« gedruckt zugänglich, keine Werke von Schönberg, Webern, Berg, Strawinsky, nicht einmal von Paul Hindemith. Als ich im Bayerischen Rundfunk so um 1950 herum zum ersten Mal die »Lyrische Suite« von Alban Berg hörte, war ich fasziniert, erschlagen ... wie mag eine solche Partitur aussehen?
Musiktheater: In der Freiburger Kapellmeisterklasse von Carl Ueter (Hans Zender, Wolfgang Gayler, Isaac Karabtchevski waren die Studienkollegen) kam ich mit der Welt der Oper in erste aktive Berührung. Dort wurde mein ganzes Interesse auf das Musiktheater gelenkt. Als Schüler Wolfgang Fortners konnte ich näheren Einblick in den Schaffensprozeß an Fortners ersten beiden Opern »Bluthochzeit« und »Don Perlimplim« (beide nach Lorca) nehmen. Seit dieser Zeit war ich selbst auf der Suche nach einem Opernlibretto, machte auch eigene erfolglose Textversuche...
1970 stieß ich das erste Mal auf den »Graf Öderland« von Max Frisch. Aber durch die »Clube of Rome«-Thesen wurde mein Interesse zunächst einmal auf andere brennende Probleme gelenkt: die Verletzlichkeit des Friedens in der Welt und die Erschöpfbarkeit unserer Welt. Ich schrieb »Da pacem«, »Musik der Trauer«, »Consummatio mundi« und schließlich »Tempus Dei - des Menschen Zeit«, eine 1979 uraufgeführte Rappresentazione sacra, eine Kirchenoper. Die Darstellung dramatischer Vorgänge in der Musik, auch in Kammermusik- und Orgelwerken ließ mich nicht mehr los.
Nach »Tempus Dei« brachte mich Joachim Kaiser wieder auf den »Graf Öderland«, er vermittelte die Bekanntschaft mit Max Frisch. Anläßlich der Aufführung seines »Triptychon« am Burgtheater traf ich 1980 mit Max Frisch in Wien zusammen. Nach anfänglichen Bedenken erklärte sich Max Frisch nach dem Anhören von »Tempus Dei« mit der Veroperung seines »Graf Öderland« einverstanden. Im Dezember 1981 war das Libretto dann zusammen mit Max Frisch fertiggestellt. Die Moritat vom »Graf Öderland« wurde holzschnittartig gerafft, von den zwölf Bildern der Schauspielfassung auf zehn im Libretto konzentriert. Für die Figur der Coco hatte Frisch dann auf meine Bitte hin einen neuen Song-Text geschrieben.
Die Thematik des »Graf Öderland« ist sozusagen überzeitlich. Da ist auf der einen Seite der Staatsanwalt (mit seiner Frau Elsa und Dr. Hahn in einer Dreiecksbeziehung stehend) in seiner „Midlife crisis“. Der Staatsanwalt, ein mit viel Phantasie ausgestatteter Mann, steht dem Mörder, einem völlig phantasielosen Menschen, gegenüber; der Staatsanwalt bringt dem Mörder Verständnis entgegen, er empfindet Mitleid, ja Sympathie für ihn - Sympathie und Mitleid nicht für das Opfer, sondern für den Täter... Verschiedene Themen spielen ineinander: der Ausbruch aus der Konvention, aus der eigenen Identität, der Ausstieg aus Pflicht und Karriere, der Verzicht auf die Macht - dies letztendlich durch die phantastische Feenerzählung des Mädchens Hilde ausgelöst-, die Annahme einer neuen Identität, die ihm durch das Mädchen Hilde-Inge mit seiner »Oderland-Ballade« quasi übergestülpt wird, der Aufbruch in die vermeintliche Freiheit, die in die Anarchie führt, also in erneuter Machtausübung, ja Gewaltanwendung landen muß. In überzeitlicher Gültigkeit und klassischer Verflechtung werden menschliche Urprobleme an den Figuren des Stückes dargestellt. Der einzige, der Symbole und Zeichen sehen, deuten, wenn auch nicht einordnen kann, ist ein etwas „irrer“ Hellseher. In vielen Punkten findet man sich selbst wieder, mit vielem kann man sich identifizieren.
Die Moritat vom »Graf Öderland« ist formal von der Anlage her D. Schostakowitschs Oper »Die Nase« ähnlich. Die musikalischen Strukturen wechseln mit den einzelnen Szenen und Situationen. Jede Figur hat eine eigene Reihe, die alle von einer Grundreihe abgeleitet sind. Leitinstrumentationen charakterisieren die einzelnen Figuren. Verschiedene tradierte musikalische Formen werden szenenspezifisch verwendet, so z.B. eine isorhythmische Motette für die erste Gefängnisszene; in der 2. wird sie nur noch mit dem Mörder zusammen quasi zitiert und den anderen Figurenausformungen in dieser Szene kontrastierend gegenübergestellt. In der Bankett-Szene (Die Herren der Lage) wird z.B. ein Wiener Walzer mit immer falscher werdenden Harmonien als Bühnenmusik verwendet. Rondo- und Variationsformen finden sich genau so wie eine Passacaglia, die dem letzten Bild zugrundeliegt.
Ist die Oper heute noch eine legitime musikalische Spezies, heute überhaupt noch möglich? Boulez hatte einst diese Frage verneint - bevor er in Bayreuth dirigierte. Aber solange es zwischen Menschen noch Sprache gibt, Dialog, wird es auch Theater geben, wird es auch Oper / Musiktheater in irgendeiner Form geben. Bewußter Verzicht auf die Oper würde Einengung, Verarmung bedeuten. Musiktheater ist für mich die selbstverständlichste Sache der Welt. Hier kann in einer Form Stellung zu den Problemen unserer Zeit genommen werden, wie es sonst nirgends anderswo in solcher Unmittelbarkeit geschehen kann. Die Formen werden sich ändern, werden mutieren, sich regenerieren; manches wird verschwinden und anderes wiederkommen. Aber solange Sprache und Musik existieren werden, solange werden sie zusammentreffen in ihrer dramatischen Verknüpfung der Form der Oper.
1. Vorspiel |
2. Öderland-Ballade |
3. Intermezzo |
4. Bekenntnis des Öderland |