Nicolaus A. Huber (*1939) 2 Chöre
1. Tenebrae – 2. Chanson einer Dame im Schatten [GCh] 1965 Dauer: 7' Text: Paul Celan
16 Seiten | 23 x 30,5 cm | 58 g | ISMN: 979-0-004-41159-9 | geheftet
TENEBRAE
Nah sind wir, Herr,
nahe und greifbar.
Gegriffen schon, Herr,
ineinander verkrallt, als wär
der Leib eines jeden von uns
dein Leib, Herr.
Bete, Herr,
bete zu uns,
wir sind nah.
Windschief gingen wir hin,
gingen wir hin, uns zu bücken
nach Mulde und Maar.
Zur Tränke gingen wir, Herr.
Es war Blut, es war,
was du vergossen, Herr.
Es glänzte.
Es warf uns dein Bild in die Augen, Herr.
Augen und Mund stehn so offen und leer, Herr.
Wir haben getrunken, Herr.
Das Blut und das Bild, das im Blut war, Herr.
Bete, Herr.
Wir sind nah.
© Alle Textrechte bei S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
CHANSON EINER DAME IM SCHATTEN
Wenn die Schweigsame kommt und die Tulpen köpft:
Wer gewinnt?
Wer verliert?
Wer tritt an das Fenster?
Wer nennt ihren Namen zuerst?
Es ist einer, der trägt mein Haar.
Er trägt's wie man Tote trägt auf den Händen.
Er trägt's wie der Himmel mein Haar trug im Jahr, da ich liebte.
Er trägt es aus Eitelkeit so.
Der gewinnt.
Der verliert nicht.
Der tritt nicht ans Fenster.
Der nennt ihren Namen nicht.
Es ist einer, der hat meine Augen.
Er hat sie, seit Tore sich schließen.
Er trägt sie am Finger wie Ringe.
Er trägt sie wie Scherben von Lust und Saphir:
er war schon mein Bruder im Herbst;
er zählt schon die Tage und Nächte.
Der gewinnt.
Der verliert nicht.
Der tritt nicht ans Fenster.
Der nennt ihren Namen zuletzt.
Es ist einer, der hat, was ich sagte.
Er trägt's unterm Arm wie ein Bündel.
Er trägt's wie die Uhr ihre schlechteste Stunde.
Er trägt es von Schwelle zu Schwelle, er wirft es nicht fort.
Der gewinnt nicht.
Der verliert.
Der tritt an das Fenster.
Der nennt ihren Namen zuerst.
Der wird mit den Tulpen geköpft.
Paul Celan ,,Mohn und Gedächtnis“
© 1952 Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, Stuttgart