Nicolaus A. Huber (*1939) To „Marilyn Six Pack“
[Orch] 1995 Dauer: 17'30''
2(2Picc. A-Fl).2(Eh).2(Kb-Klar).2(Kfg) – 2.3.2.0. – Pk.Schl(3) – Hfe – KlavCel – Str: 14.12.10.8.6.
UA: Donaueschingen (Donaueschinger Musiktage), 18. Oktober 1996
1962 starb Marilyn Monroe. Noch im selben Jahr machte Andy Warhol seine bekannten Serigraphien (Siebdrucke), darunter auch „The Six Marilyns (Marilyn Six Pack)“. Mein Titel bezieht sich auf das dort und in einer Reihe anderer Themen benutzte Verfahren der bifokalen, eigentlich eher multifokalen Bildkomposition, bei der mehrere gleichgewichtige, oft auch völlig identische Bilder zu einem Bild gehören. Seit meinem Streichquartett „Doubles, mit einem beweglichen Ton“ aus dem Jahr 1987 beschäftige ich mich mit neuen Möglichkeiten struktureller Wiederholung, bei der, im Sinne dezentralen Komponierens, die Kategorien Gleichberechtigung, Unabhängigkeit und Gleich-Gültigkeit nicht außer Kraft gesetzt werden. Deswegen hatte ich neue, interessante Anregungen, als ich 1990 in einer Warhol-Retrospektive in Köln eine ganze Reihe seiner Serigraphien wiedersah. Geht man von „medialen“ Möglichkeiten aus, dann können in der Musik die Ebenen nicht integriert werden. Der Aspekt der Wiederholung als Nicht-Zusammenhang würde verloren gehen.
Deshalb ist „To Marilyn Six Pack“ eigentlich ein Projekt, das aus drei Stück-Sphären zusammengesetzt ist.
1. Die Partiturvorlage live gespielt, „Original“.
2. Die Aufnahme des Orchesterstücks, die durch eine Filterbank von acht Filtereinstellungen geschickt wird, die acht verschiedene Übertragungslautsprechertypen - von sehr gut bis sehr schlecht - repräsentieren und durch ihre mediale Melodik den Informations- und Kommunikationsgehalt des Stücks erheblich beeinflussen. Die original-zeitliche Struktur der Komposition bleibt dabei voll erhalten.
3. Das Original in einer zeitgefalteten Version („mediale Reproduzierbarkeit“):
Die original-zeitliche Struktur des Stückes (17‘30) wird auf Tonband in drei Teile von jeweils knapp sechs Minuten geteilt; A: Takte 1- 68 / B: Takte 69 -140 / C: Takte 141-239 (Ende).
Diese drei Teile werden übereinandergeschichtet und eventuell durch geringfügiges Nachregeln ausbalanciert. Die neue zeitliche Struktur (knapp 6') wird wiederum in acht verschieden lange Abschnitte geteilt, die dann acht Schleifen unterschiedlicher Länge ergeben:
1.) 21'2.) 23'3.) 34'4.) 37'5.) 38'6.) 55'7.) 61'8.) 89'
Die Einsatzabstände betragen 3' / 2,5' / 2' / 1,5' / 1' / 0,8' / 0,3'.
Die einzelnen Loops sollen zudem bei jeder Wiederholung um den Bruchteil einer Sekunde versetzt werden, um die regelmäßige Fibonacci-Selbstähnlichkeit der Abstände zu stören. Die Loops sollen zudem um +/-10 Cents gegeneinander verschoben sein und können in verschiedenen Reihenfolgen pro Wiederholung einer Filtereinstellung 1- 8 (siehe oben) unterworfen werden.
Gesamtdauer dieser Schleifensummen: 8" oder 13".
Möglichkeiten der Aufführung:
1. Das Orchester spielt das Stück live (= 1.).
2. In der Pause wird die Filterversion (= 2.) über 1, 2, 3, 5 oder 8 Lautsprecher(paare), die selbst dem System von sehr gut bis sehr schlecht gehorchen können/sollen und an verschiedenen Orten aufzustellen sind, als Klangumgebung wiedergegeben, das heißt: ohne jede Aufdringlichkeit (sehr geringer Pegel). Nach der Konzertpause wird das Stück vom Orchester live gespielt. Nach dem gesamten Konzert soll die Schleifenversion (= 3.) in fanfarenartiger Lautstärke über die gleichen Lautsprecher wie die Filterversion in Foyer und Gängen das Publikum hinausbegleiten.
3. Die Filterversion tritt an die Stelle des live gespielten Originals. In diesem Fall sitzt das Orchester entweder vollständig auf der Bühne (ohne zu spielen), oder die Instrumente sind wie ein Instrumentenorchester, ohne Musiker, arrangiert. Die Filterversion wird eingespielt, darf aber im Raum keine direkte Abstrahlung haben. Das heißt: Das Stück muß klingen, wie wenn es von außen nach innen dringen würde. Man kann auch an eine Art Echo-Orchester denken, indem zum Beispiel unter dem Fußboden, wo das Publikum sitzt, Minirecorder für eine (nicht naturgetreue) diffuse Klangwelt dieser Einspielung sorgen und ähnliches.
4. Die Wiedergabe der Filterversion in einem schmuddeligen Apparat wird Teil eines mixed media tableaus wie etwa von Edward Kienholz (zum Beispiel „The Wait“, „The Back Seat Dodge“‚ „38“, „Sollie 17“, „Roxy's“ etc.). Ein solches Tableau könnte auch die Schleife integrieren. In diesem Fall könnte das oben in der zweiten Aufführungsmöglichkeit beschriebene Pausen- und Fanfaren-Environment entfallen.
(Nicolaus A. Huber, 26. Mai 1996)
CD:
Orchestre National de France, Ltg. Lothar Zagrosek
CD col legno WWE 3CD 20008
Bibliografie:
Huber, Nicolaus A.: THIRTY ARE BETTER THAN ONE (A. Warhol), in: Neue Musik und andere Künste, hrsg. von Jörn Peter Hiekel (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Band 50), Mainz u.a.: Schott 2010, S. 220-235.