Nicolaus A. Huber (*1939) Gespenster
[Orch] 1976 Dauer: 17' Text: Bertolt Brecht
3(Picc.A-Fl).3(Eh.Heckelphon).3(B-Klar).3(Kfg) – 4.4.4.0. – Pk.Schl.Glsp – Hfe – Klav.Cel – Str.: 14.12.10.8.6 – Tb
Uraufführung: Bonn, 18. Mai 1977
Gespenster hat mit dem gleichnamigen Theaterstück Ibsens den Kontrast zwischen Alt und Neu sowie den Deutlichkeitsgrad in der Darstellung dieser Auseinandersetzung gemeinsam. Zwei Kulturen stoßen aufeinander. Aber die erste hat einiges abzugeben, bestimmte ihrer Elemente eignen sich zur Intonationsbildhaftigkeit. „Leben dort keine Arbeiter?“ ist mehrdeutig: In Tutti spielt jeder Orchestermusiker so leise und so lange (den ganzen Atem drangebend) wie möglich, solistisch, einen nur ihm zugeschriebenen Ton. Der präzis verströmende Atem (der Bogen gilt als Atem des Streichers) und die Konzentration auf das Leise erzeugen den Anspruch des Kostbaren, sind ein Gesang, zart und selbstsicher, für die vielen ermordeten fortschrittlichen Demokraten. Durch das Elementare dieses Vorgangs, die Verknüpfung von Ton-Komposition und (Lebens-)Atem entsteht eine Zurücknahme des Rhythmischen, das aber gerade dadurch als zweite Schicht besondere Plastizität bekommt und im Laufe des Stücks immer wichtiger - bis zur Verselbständigung - wird. Zwischen diesen beiden Extremen steht die Harfe als vermittelnder Ausgangspunkt mit ihrem idealen Saitenspannungsgrad, der, genau zwischen starr und schlaff liegend, eine elastische Flexibilität des Harfentons verursacht, von dessen Klang-Charakter man als einem vorbildlichen lernen kann.
Mit ihrem genau komponierten Glissando weist die Harfe auf den Vorspruch hin mit seinem gleichsam im Rohzustand liegenden Material und auf das Lied am Ende, das in seiner Harmonik besonders ausgefeilt an die Tradition der Arbeiterkultur anknüpft, was die Behandlung von Diatonik und Chromatik in ihrer Beziehung zum Inhalt betrifft. Die Mechanik der Harfe mit ihrer Möglichkeit der Halbton-Verschiebung entspricht dem so genau, dass die gesamte Harmonik von Vorspruch, Tutti, Lied daraus abgeleitet werden kann.
Der Brecht-Text des Liedes sowie das „Dachau-Lied“ (mit dem Zitat, das über dem KZ-Eingang stand: „Arbeit macht frei!“) sind Zeugnisse aus der Zeit des Faschismus. Peter Maiwalds Geschichte vom Arbeiter B. weist in Vergangenheit und Zukunft. Am Ende von Tutti stehen zwei kurze „Porträt“-Klänge: „Menschenklang“-Farben von Personen, die diesen geschichtlichen Abschnitt erlebt haben. Was denken Ihre Ohren (die der Zuhörer)!?
(Nicolaus A. Huber, 1977)
CD:
Reinhold Ongemach, SWF Sinfonieorchester Baden-Baden & Freiburg, Ltg. Ernest Bour
CD Coviello COV 91915
Bibliografie:
Hilberg, Frank: Aspekte der Instrumentation in den Orchesterwerken Nicolaus A. Hubers, in: Nicolaus A. Huber, hrsg. von Ulrich Tadday (= Musik-Konzepte. Neue Folge 168/169), München: edition text + kritik 2015, S. 104-123.
Hufschmidt, Wolfgang: Musik über Musik III. Nicolaus A. Hubers „Gespenster“ für großes Orchester, Sänger/Sprecher und Tonband, in: Wilfried Gruhn (Hrsg.), Reflexionen über Musik heute, Mainz 1981, S. 278-289.
Oehlschlägel, Reinhard: Aus Popularmusik und Avantgarde-Elementen. Nicolaus A. Hubers Orchesterstück „Gespenster“, in: MusikTexte Heft 108 (Februar 2006), S. 66-69.