Nicolaus A. Huber (*1939) En face d'en face
[Orch] 1994 Dauer: 18'
3(Picc).3.3(Klar[Es]. Kb-Klar).3(Kfg) – 4.3.3.0. – Pk.Schl(3) – Hfe – Klav.Cel – Str.: 14.12.10.8.6. / Tb (ad lib)
Uraufführung: Hamburg, 11. Februar 1996
Der Titel meines Orchesterstückes En face d'en face, etwa „gegenüber von gegenüber“ meinend, geht auf ein Darstellungsprinzip der alten ägyptischen Malerei und Reliefkunst zurück. Ihre Dichte der Darstellung wird durch Vermeiden des zufälligen, einheitlichen Augenblickseindrucks gewonnen. Die Verknüpfung der einzelnen Teile, zum Beispiel eines menschlichen Körpers, geschieht auf spezielle Art und Weise. Das Bild gibt nicht wieder, was das Auge sieht, sondern mutet durch die Technik der Versetzung einer Gruppe von Körperteilen (Auge, Oberkörper, Nabel) um 90° gegenüber den anderen Teilen dem Betrachter ein komplexeres Sehen zu. Diese simultane Profil- und Frontalansicht erlaubt eine höhere Vollständigkeit, die sich nicht an die Zeitgrenzen der einmaligen Blickerfassung hält. Die Künstler des Kubismus benützten diese Verfahren wieder und trieben sie weiter zu maximalen Möglichkeiten der Aufsplitterung und Vervielfältigung (natürlich im Dienste ihrer künstlerischen Anliegen).
Ein Gesicht im Gesicht als Gesicht ist eine wunderbare Vorstellung.VIn der Musik wäre das nächstliegende Mittel der Wiederholung als Wiedererkennbares jedoch zu primitiv und kurz gedacht. Die Technik, mit der in meinem Stück musikalische und orchestrale Komplexität organisiert ist, ist wohl am besten mit dem Begriff der „Mehrfachdarstellung“ eines Gedankens/Gedankengangs zu beschreiben. Dieses Prinzip ist ineinandergeschoben, verwoben, getrennt, zeitlich ge- oder verstreut, in verschiedenen Graden der Annäherung und Entfernung usw. leicht vorstellbar, das heißt auch faßlich. Kann man darin keine Haupt- und Nebensachen mehr ausmachen, kein Verschmelzendes, kein Erzählendes etc., dann taucht ein neues Hören auf: Sonst Zusammenhängendes steht sich jetzt plötzlich nur noch gegenüber. Derartige Fremdheit bedingt: Das Gegenüberstehende sieht sich gegenüber dem Gegenüberstehenden. Eine Aufführung mit Tonband läßt dies am elementarsten erahnen. Das gesamte Stück wird in 16 Teile getrennt und diese werden übereinandergeschichtet. Diese simultane Stückpressung wird wieder in zwei Hälften geteilt, die wie zwei Shrugs (Stücke des „achselzuckenden Hörens“) dem eigentlichen (live-)Stück, gleichsam als zwei Riesenfermaten, vor- und nachgestellt sind.
(Nicolaus A. Huber, November 1995)
Bibliografie:
Huber, Nicolaus A.: THIRTY ARE BETTER THAN ONE (A. Warhol), in: Neue Musik und andere Künste, hrsg. von Jörn Peter Hiekel (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Band 50), Mainz u.a.: Schott 2010, S. 220-235.