Nicolaus A. Huber (*1939) 3 Stücke
[Singst,Klav,Orch] 1990/91 Dauer: 31'
Soli: Stimme – Klav – 2(Picc).2.2(Kb-Klar).2(Kfg) – 2.2.2.0. – Pk.Schl(3) – Hfe – Cel – Str: 14.12.10.8.6.
UA: Stuttgart, 31. Januar 1992
I Annäherung an ein Wollknäuel mit Abschied der kleinen Trommel und Kommentar des Atmers
II Tote Metren für Ensemble und Bariton
III Statement zu einem Faustschlag Nonos für Klavier
„... die effektive Dimension hat unvermeidlich eine subjektive Grundlage. Sie ist eine Sache der Approximation und deshalb des Auflösungsgrades.
Dieser vage Eindruck wird dadurch bekräftigt, dass ein Wollknäuel von 10 cm Durchmesser, gewickelt aus einem 1 mm dicken Faden (in versteckter Form) verschiedene effektive Dimensionen besitzt.
Einem Beobachter, der weit genug entfernt ist, erscheint das Knäuel als eine nulldimensionale Figur: ein Punkt. (...) Mit 10-cm-Auflösung betrachtet, ist das Knäuel eine dreidimensionale Figur. Mit 10-mm-Auflösung ist es ein Wirrwarr von eindimensionalen Fäden. Bei 0,1-mm-Auflösung wird jeder Faden zur Säule, und das Ganze wird wieder eine dreidimensionale Figur. Bei 0,01 mm löst sich jede Säule in Fasern auf, und das Knäuel wird wieder eindimensional usw. ...“
(Benoit Mandelbrot, Die fraktale Geometrie der Natur).
Die meisten Gestalten in meinem Stück sind wie dieses Wollknäuel, und die musikalisch-kompositorische Entfaltung der Gestaltbeziehungen ist das Projekt dieser Musik, die als Zeitkunst Notwendigkeit und Freiheit gibt, dem Beobachter seine Entfernung zu diktieren, ihm, dem immer gleich weit entfernten, Approximationen und Auflösungsgrade vorzugeben. Inmitten von Dimensions- und Erkenntnistremoli, versuchend, Klarheit über die gesellschaftlichen Macht- und Wertebewegungen zu bekommen, eine eindeutige Positionsfixierung: ein (für mich?) herzzerreißender Abschied der kleinen Trommel mit einem Kommentar des Atmers auf Rhythmusfragmenten des „Dachau-Liedes“. Aber in welcher effektiven Dimension befinden wir uns??
(Nicolaus A. Huber, 1991)
Huber nimmt in den expressiven „Drei Stücken“ Bezug auf die globale Gefährdung durch Raubbau an der Natur. Mit insistierendem Impetus stemmt sich im letzten Satz „Statement für einen Faustschlag Nonos“ die Pianistin mit den Unterarmclustern - unisono mit dem Orchester - immer wieder von der Tastatur ab, um sich dadurch auch sinnbildlich gegen ein seelenlos betriebenes ‚Macht euch die Erde untertan’ aufzulehnen. Der röchelnde Atmer veranschaulicht unterdessen, wie krank das Kollektiv aus Hubers Sicht bereits ist bzw. wie „wir“ jetzt schon an der Umweltverschmutzung kranken. Das dunkle, durchweg düstere Szenario, in der ein quasi seherischer Halbtoter dem Apparat, hier dem Orchester, mehr oder weniger hilflos gegenübersteht, hat szenische Qualitäten und wirkt als hörfilmartiges Bild immens bedrohlich. - Mit baritonaler Kopfstimme und röchelndem Luftschnappen wird im zweiten Satz „Tote Metren“ jeder Utopie abgeschworen – eine geschichtspessimistische Vision kurz nach der politischen Wende, als ein Großteil der Bevölkerung noch von „Blühenden Landschaften“ träumte und man sich im Westen als geschichtlich verbürgte Sieger des Kalten Krieges wähnte. Huber setzt dem Einheitstaumel sein apokalyptisches Szenario entgegen.
(Achim Heidenreich)
CD:
Junges Philharmonisches Orchester Stuttgart, Ltg. Manfred Schreier
CD BMG 74321 73569 2
Bibliografie:
Hilberg, Frank: Aspekte der Instrumentation in den Orchesterwerken Nicolaus A. Hubers, in: Nicolaus A. Huber, hrsg. von Ulrich Tadday (= Musik-Konzepte. Neue Folge 168/169), München: edition text + kritik 2015, S. 104-123.
Kampe, Gordon: „Alles weg!“ Über das Verschwinden im Werk Nicolaus A. Hubers, in: Nicolaus A. Huber, hrsg. von Ulrich Tadday (= Musik-Konzepte. Neue Folge 168/169), München: edition text + kritik 2015, S. 64-79.