Nicolaus A. Huber (*1939) dasselbe ist nicht dasselbe
[kl.Tr] 1978 Dauer: 15'
Uraufführung: Witten (Wittener Tage für neue Kammermusik), 22. April 1978
16 Seiten | 42 x 29,7 cm | 176 g | ISMN: 979-0-004-18879-8 | Mappe
Innerhalb der Reihe meiner Rhythmusstücke (Darabukka für Klavier oder Morgenlied für großes Orchester) bildet die Komposition für kleine Trommel ein Gegenstück. Das Spannungsmoment: Tonhöheninstrumente werden wie Rhythmusinstrumente behandelt, fällt weg. An die Stelle dieses inneren Kontrastes tritt die Spannung des verschiedenen Gebrauchs der Trommel zu relativ vielen gleichbleibenden Behandlungselementen. Obwohl erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelt, ist die kleine Trommel innerhalb einer alten und vielschichtigen Trommelkultur zu sehen. Verschiedene Seiten des Reichtums dieser Kultur, sowohl gesellschaftlichen Gebrauch als auch Vielfalt von Spieltechnik und Ausdruck betreffend, sind kompositionstechnische Grundlage. Dies jedoch nicht in bloß zitierender Art und Weise - das wäre ungeschichtlich -, sondern im Gegenteil: Das Fortschrittliche, soweit ich es in unseren gesellschaftlichen Verhältnissen sehe, ist voll und ganz auffindbar, denn „dasselbe ist nicht dasselbe“.
(Nicolaus A. Huber, 1978)
Nach der Uraufführung kam zu mir ein Hörer und fragte mich, ob ich Heines „Das Buch Le Grand“ kenne. Ich kannte es nicht, war aber bei der nachträglichen Lektüre sehr überrascht über den Heine-Text, dessen Beziehung zu meinem Stück und begeistert von der Art, wie dieser Konzertbesucher meine Komposition zu hören verstand.
Hier ein Auszug aus H. Heine „Das Buch Le Grand“ (um 1828):
Man muß den Geist der Sprache kennen, und diesen lernt man am besten durch Trommeln. Parbleu! wie viel verdanke ich nicht dem französischen Tambour, der so lange bei uns in Quartier lag, und wie ein Teufel aussah, und doch von Herzen so engelgut war, und so ganz vorzüglich trommelte.
Es war eine kleine, bewegliche Figur mit einem fürchterlichen, schwarzen Schnurrbarte, worunter sich die roten Lippen trotzig hervorbäumten, während die feurigen Augen hin und her schossen.
Ich kleiner Junge hing an ihm wie eine Klette, und half ihm seine Knöpfe spiegelblank putzen und seine Weste mit Kreide weißen – denn Monsieur Le Grand wollte gerne gefallen – und ich folgte ihm auch auf die Wache, nach dem Appell, nach der Parade – da war nichts als Waffenglanz und Lustigkeit – les jours de fête sont passés! Monsieur Le Grand wußte nur wenig gebrochenes Deutsch, nur die Hauptausdrücke – Brot, Kuß, Ehre – doch konnte er sich auf der Trommel sehr gut verständlich machen, z. B. wenn ich nicht wußte, was das Wort „liberté“ bedeute, so trommelte er den Marseiller Marsch – und ich verstand ihn. Wußte ich nicht die Bedeutung des Wortes „egalité“, so trommelte er den Marsch „Ca ira, ca ira --- les aristocrates à la lanterne!“ – und ich verstand ihn. Wußte ich nicht, was „bétise“ sei, so trommelte er den Dessauer Marsch, den wir Deutschen, wie auch Goethe berichtet, in der Champagne getrommelt – und ich verstand ihn. Er wollte mir mal das Wort „l'Allemagne“ erklären, und er trommelte jene allzu einfache Urmelodie, die man oft an Markttagen bei tanzenden Hunden hört, nämlich Dum – Dum – Dum – ich ärgerte mich, aber ich verstand ihn doch.
Auf ähnliche Weise lehrte er mich auch die neuere Geschichte. Ich verstand zwar nicht die Worte, die er sprach, aber da er während des Sprechens beständig trommelte, so wußte ich doch, was er sagen wollte. Im Grunde ist das die beste Lehrmethode. Die Geschichte von der Bestürmung der Bastille, der Tuilerien usw. begreift man erst recht, wenn man weiß, wie bei solchen Gelegenheiten getrommelt wurde. In unseren Schulkompendien liest man bloß: „Ihre Exz. die Baronen und Grafen und hochdero Gemahlinnen wurden geköpft – Ihre Altessen die Herzöge und Prinzen und höchstdero Gemahlinnen wurden geköpft – Ihre Majestät der König und allerhöchstdero Gemahlin wurden geköpft –“ aber wenn man den roten Guillotinenmarsch trommeln hört, so begreift man dieses erst recht, und man erfährt das Warum und das Wie. Madame, das ist ein gar wunderlicher Marsch! Er durchschauerte mir Mark und Bein, als ich ihn zuerst hörte, und ich war froh, daß ich ihn vergaß – Man vergißt so etwas, wenn man älter wird, ein junger Mann hat jetzt so viel anderes Wissen im Kopf zu behalten – Whist, Boston, genealogische Tabellen, Bundestagsbeschlüsse, Dramaturgie, Liturgie, Vorschneiden – und wirklich, trotz allem Stirnreiben konnte ich mich lange Zeit nicht mehr auf jene gewaltige Melodie besinnen. Aber denken Sie sich, Madame! Unlängst sitze ich an der Tafel mit einer ganzen Menagerie von Grafen, Prinzen, Prinzessinnen, Kammerherren, Hofmarschallinnen, Hofschenken, Oberhofmeisterinnen, Hofsilberbewahrern, Hofjägermeisterinnen, und wie diese vornehmen Domestiken noch außerdem heißen mögen, und ihre Unterdomestiken liefen hinter ihren Stühlen und schoben ihnen die gefüllten Teller vors Maul – ich aber, der übergangen und übersehen wurde, saß müßig, ohne die mindeste Kinnbackenbeschäftigung, und ich knetete Brotkügelchen, und trommelte vor Langerweile mit den Fingern, und zu meinem Entsetzen trommelte ich plötzlich den roten, längst vergessenen Guillotinenmarsch.
„Und was geschah?“ Madame, diese Leute lassen sich im Essen nicht stören, und wissen nicht, daß andere Leute, wenn sie nichts zu essen haben, plötzlich anfangen zu trommeln, und zwar gar kuriose Märsche, die man längst vergessen glaubte.“
(Nicolaus A. Huber)
CDs:
Rainer Römer (Schlagzeug)
CD Ensemble Modern Medien EMCD-012
Rainer Römer (Schlagzeug)
CD Coviello COV 61003
LPs:
Edith Salmen
LP Harmonia Mundi DMR 1022-24
Martin Schulz
LP pläne 88504
Bibliografie:
Schick, Tobias Eduard: Weltbezüge in der Musik Mathias Spahlingers (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, Band 80), Stuttgart; Franz Steiner 2018, dort S. 102.