Nicolaus A. Huber (*1939) An Hölderlins Umnachtung
[KamEns] 1992 Dauer: 19'
Fl(Picc).Ob.Klar.Fg – Hn.Trp.Pos – Schl(2) – Hfe – Klav – Vl.Va.Vc.Kb
UA: Porto, 31. Oktober 1993
Bei der kompositorischen Arbeit an diesem Stück bin ich von Klangproduktions-Feldern ausgegangen. Das heißt: Gleiche Merkmale lassen Verschiedenartiges als Glieder von Ketten erscheinen. Zum Beispiel das Produktionsfeld „tupfen“ bringt Pizzicato, Bleistiftpunkte, Becken pianissimo, Klaviersaiten getupft hervor. Diese können durch Pedal nachklingen. „Nachklingen“ führt zu Bleistiftstrichen, zu Tonpunkteglissandi der Harfe, zu kurzen, zu langen Akkorden, zu Akkordketten, zu melodischen Tonaggregaten usw.
Dieses allgemeine, von der Linguistik angeregte Verfahren hat mich besonders dadurch gefesselt, dass es im Kontext des musikalischen Verlaufs immer ganz präzise und spezifizierte Gestalten hervorbringen läßt. Gleichzeitig zerrannen mir diese Gestalten, indem einzelne Töne, Melodien, Harmonik-Ketten, auch Verborgeneres wie Spitzen- oder Tieftöne von Akkordfolgen usw. sich aus ihrem „normalen“ Kontext herauslösten und in seltsam berührender Fremdheit wiederholten.
Genau dies ist – übrigens innerhalb einer exakten Zahlen- und Maßkalkulation – Verrücktheit, Leben und Arbeiten Hölderlins im Tübinger Turm gewesen. Sein Beispiel schöpferischer Umnachtung hat mich bei der psychischen Bewältigung der oben beschriebenen Techniken und Gestaltprobleme gestärkt und mir zur Entschiedenheit verholfen.
Wer den Ausdruck dieses Stückes als Spieler und Hörer ganz verstehen will, sollte unbedingt noch die beiden folgenden Berichte kennenlernen, denn die Widmung „An Hölderlins Umnachtung“ (es gibt im Stück auch ein „Akustik-Porträt“) bedeutet das Gegenteil poetischer Gemütlichkeit.
„Heute war ich wieder bei ihm, einige Gedichte, die er gemacht hatte, abzuholen. Es waren zwei, unter denen keine Unterschrift war. Zimmers Tochter sagte mir, ich solle ihn bitten, den Namen H. drunter zu schreiben. Ich gieng zu ihm hinein und that es, da wurde er ganz rasend, rannte in der Stube herum, nahm den Sessel und setzte ihn ungestüm bald da-, bald dorthin, schrie unverständliche Worte, worunter ‚Ich heiße Skardanelli‘ deutlich ausgesprochen war, endlich setzte er sich doch und schrieb in seiner Wuth den Namen Skardanelli darunter. Ich gieng nun gleich wieder und obgleich er mich mit den Händen heftig fortwinkte und dazu fluchte, machte ich, ohne mich aus der Fassung bringen zu lassen, anständige Verbeugungen.“ (Theodor Schwab 1841)
Landgräfin Caroline von Hessen-Homburg schreibt ihrer Tochter, der verheirateten Prinzessin Marianne von Preußen, nach Berlin: „Der arme ‚Holterling‘ wurde heute morgen abgeholt, um zu seinen Eltern zurückgebracht zu werden; er hat alle Anstrengungen unternommen, sich aus dem Wagen zu stürzen, aber der Mann, der sich um ihn kümmern sollte, riß ihn zurück. ‚Holterling‘ schrie, die ‚Harschierer‘ würden ihn entführen und versuchte es noch einmal und kratzte dabei jenen Mann derart mit seinen enorm langen Fingernägeln, dass er ganz blutig war.“ Vermutlich schrie er: Häscher! (11. September 1806, Übersetzung des französischen Originalbriefs durch die Redaktion des Verlags Schirmer/Mosel)
(Nicolaus A. Huber, 1992)
CD:
Musikfabrik NRW, Ltg. Johannes Kalitzke
CD cpo 999 259-2
Bibliographie:
Huber, Nicolaus A.: „Die Zeit ist buchstabengenau und allbarmherzig“. Zu Hölderlin in meinen Kompositionen, in: Dissonanz, Heft 76, August 2002, S. 4-13, und Heft 77, Oktober 2002, S. 4-15.
„Le temps est littéral et miséricordieux“. La place de Friedrich Hölderlin dans mes compositions, in: Dissonance, Heft 76, August 2002, S. 4-13, und Heft 77, Oktober 2002, S. 4-15.
ders.: THIRTY ARE BETTER THAN ONE (A. Warhol), in: Neue Musik und andere Künste, hrsg. von Jörn Peter Hiekel (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Band 50), Mainz u.a.: Schott 2010, S. 220-235.
Nimczik, Ortwin: Neue Musik: Nur die Feder hört man auf dem Papier. Anregungen für “akustische Porträts” von Friedrich Hölderlin, in: Musik und Bildung 44 (2012), Heft 2, S. 66-70.
Schwehr, Cornelius: Nicolaus A. Huber. An Hölderlins Umnachtung, in: Musik und Ästhetik 7, Heft 25 (Januar 2003), S. 60-70.
Engl. in: Music of Nicolaus A. Huber and Mathias Spahlinger, hrsg. von Philipp Blume, Contemporary Music Review 27 (2008), Heft 6, S. 643-653.