Nicolaus A. Huber (*1939) Mit etwas Extremismus
und einer „Muskel-Coda“ [Sept] 1991 Dauer: 19'
Ob.Klar.Pos.Schl.Vl.Vc.Kb sowie 5 Schachteln. 5 Schatullen. 5 Schubladen mit 5 Cassettenrecordern. Naturgegenstände
UA: Witten (Wittener Tage für neue Kammermusik), 25. April 1992
42 Seiten | 28,5 x 36,6 cm | 241 g | ISMN: 979-0-004-50200-6 | Mappe
Als ich die Anleitung zu Cages „Variations II“ gelesen hatte, war mir klar, dass ich keine Version machen würde - ich war eigentlich ziemlich überrascht und entsetzt über die Zeitgebundenheit der Vorlage. Diese Art der Parameterskalierung steht ganz im Bann seriellen Denkens, und eine Ausarbeitung wäre langweilig, sogar eine Zwangsjacke für mich gewesen. Es sieht nur so aus, als wäre mit diesem Programm alles möglich. Die Vorlage bietet die größte Freiheit eher zur größten Striktheit, ähnlich einer Gummizelle, die zwar nachgibt, einen aber dennoch gefangen hält.
Bei meinem Komponieren geht von den Tönen etwas aus, sie können nicht nur für sich selbst sein, mit isoliert gedachten Tönen kann ich nicht umgehen. Mich interessiert mehr der Übergang von einem Ton zum anderen, und dabei spielt das Erleben und Reagieren eine Rolle. Cages Stück dagegen ist viel zu isolationstransparent, es trägt nicht die Meinung oder den Gedankengang des Autors, es trägt nur dessen Fragen, die aber nicht meine Fragen sind.
Dennoch fand ich es einmal interessant, mich mit dem Projekt zu beschäftigen und meine Musik solch einem Denken zu öffnen. Ich habe daher einen Wurf gemacht, ihn ausgemessen und die Maße dann übertragen. Allerdings haben sie überhaupt nichts mit den Parametern von Cage zu tun. Ich habe alle Zahlen benützt, aber meine Komponierweise beibehalten.
„Mit etwas Extremismus“ ist ein Zitat aus der Rede von Cage an ein Orchester, wo er sagte: „Wenn Sie Klänge zu machen haben, spielen Sie sie mit etwas Extremismus, als ob ... Sie einen solchen Klang noch nie angetroffen hätten.“ Auch die Töne hier sollen mit so einem Ausdruck gespielt werden.
Es sind verschiedene Welten in dem Stück, die in gewissem, sich kommentierendem Widerspruch zueinander stehen, zum Beispiel tritt ein ekstatischer Rhythmus aus Skrjabins 5. Sonate auf, der hier von einem Becken gespielt wird und in die Ausrufe „Mit Ekstase, mit Gefühl, mit Ausdruck“ mündet. Oder „das Ruhe ausstrahlende Berühren“ von Naturmaterialien. Oder die Rasseln und Ketten, die gleichsam als Klangstriche über den Bühnenboden gezogen und schließlich aufgehängt werden - das waren die Linien von den Folien, die mich sehr gestört haben und die ich so aus der Welt geschafft habe. Dann gibt es fünf Schubladen, in denen Cassettenrecorder mit Aufnahmen meiner eigenen Musik sind. Die werden zu bestimmten Zeitpunkten angeschaltet, die Schubladen verschieden weit geöffnet, wieder geschlossen und schließlich die Musik ausgeblendet.
Am Schluss habe ich ein kleines Bömbchen in das Cage-Projekt gelegt, nämlich ein Paukensolo mit einem großen, expressiven Crescendo. Anschließend gibt es eine Muskel-Coda mit einem Körpertremolo, einem Zittern aufgrund von Anstrengung. Die Spieler sollen im Ekstaserhythmus von Skrjabin ausgesuchte Muskelposen machen. Das muß etwas mit Gefühl, Ausdruck, Ekstase zu tun haben. Muskeln in Öl, schöne Körper, so etwas müßte es sein. Bis zum Schluß ist die Muskelstellung zu halten, mit ganz aufgeblasenem Brustkorb, dann ausatmen, und schon ist der Muskelprotz wie eine leere Tüte. Ich fand es nötig, so etwas in das Cage-Projekt einzufügen. Ich glaube, mein Stück spiegelt Cage-Verehrung wider, aber von jemandem, der sich doch nur beschränkt auf Cage einlassen kann.
(Nicolaus A. Huber, 1992)
CDs:
Ensemble Modern
CD WD 03 (Dokumentation Wittener Tage für neue Kammermusik 1992)
Ensemble Modern
CD Coviello COV 61003
Bibliografie:
Nonnenmann, K. Rainer: Vom Inszenieren und Sezieren des Klanges. Antithetisches Komponieren in „Mit etwas Extremismus“ (1991), in: Nonnenmann, „Arbeit am Mythos“. Studien zur Musik von Nicolaus A. Huber, Saarbrücken: Pfau 2002, S. 48-74.
Amzoll, Stefan: „Ich bin ein Bewunderer des Seins“. Über Geschichte und kritisches Komponieren im Werk Nicolaus A. Hubers, in: MusikTexte Heft 108 (Februar 2006), S. 27-33.