York Höller (*1944) Schwarze Halbinseln
[Orch] 1983 Dauer: 23'
3(3Picc).3(Eh).3(B-Klar).3(Kfg) – 4.3.3.1. – 2Pk.Schl(6) – Hfe – Klav./Cel – Str.: 14.12.10.8.6 – Tb
UA: Köln, 27. November 1982
„Man könnte vielleicht sagen, daß meine Dichtung der beste Beweis eines metaphysischen Landes ist, das seine schwarzen Halbinseln weit herein in unsere flüchtigen Tage streckt.“ Mit dieser Metapher versuchte Georg Heym, Lyriker des Expressionismus (1887-1915), frühvollendeter „sprachgewaltiger Meister apokalyptischer Bilder“ (0. Mann), seine „innere Landschaft“ zu umschreiben. Bereits in meiner Schulzeit fühlte ich mich von der visionären Bildwelt und elementaren Ausdruckskraft der Heymschen Dichtung stark angezogen, und der Plan, etwas über Heym zu machen, hat mich seitdem nicht mehr losgelassen. Aber erst jetzt glaube ich die nach meiner Vorstellung dazu notwendigen Mittel in der Hand zu haben und zu beherrschen: das „surreale“ Medium der elektronischen Musik sowie ein Formdenken, das in sich bereits erhebliche Affinitäten zum Sprachlichen aufweist.
Zum Klang: Entsprechend meiner hinlänglich bekannten ästhetischen Position geht es mir auch in diesem Werk um die komplizierte Beziehung zwischen natürlichem und elektronischem Klang. So gibt es auf dem Tonband neben den natürlichen Klängen von Sprache (Frauenstimme), Gesang (Frauenchor) und Instrumenten rein elektronische Klänge (Synthesizer) sowie vor allem eine Vielzahl von Klangmischungen, -übergängen, -ableitungen und -transformationen, deren nähere Beschreibung hier nicht möglich ist. Möge der Hörer sie mit seinen eigenen Ohren entdecken und -wenn ihm der Sinn danach steht -zu klassifizieren versuchen! Dabei sollte eines nicht übersehen werden: Der Klang als solcher ist wenig wert, erst durch den musikalischen Zusammenhang und durch seine Bestimmung in Hinsicht auf einen angestrebten Ausdruck erhält er Bedeutung und Gewicht. Andererseits: Abgenutzte, verbrauchte Klänge und Klangzusammenhänge gehen meist Hand in Hand mit Verödungen auch in den tieferen musikalischen Schichten...
Zur Form: Das Werk gliedert sich in eine umfangreiche Einleitung, die etwa ein Viertel der Gesamtlänge des Stückes ausmacht, und einen Hauptteil, der aus fünf „Kapiteln“ besteht. In der Einleitung wird zunächst das Basismaterial exponiert: die Kernintervalle der kleinen Sekunde und der kleinen Terz sowie eine daraus entwickelte Zwölftonreihe (Zwölftonakkord), die ihrerseits nur als „Vorform“ für eine ausgedehntere, 31 tönige „Klanggestalt“ dient. Diese „Klanggestalt“ ist verantwortlich für Melodik, Harmonik, Form und teilweise die Rhythmik des Hauptteils. Er besteht aus fünf Abschnitten, die in ihrem musikalischen Charakter deutlich voneinander abgehoben, aber formal im Sinne einer Netzstruktur untereinander verbunden sind. Man kann diesen Hauptteil als eine riesige Durchführung auffassen, in der das Material vielfältig verarbeitet und verändert wird. Darüber hinaus ist er über weite Strecken eine Art „Vorauskommentar“ (Im Sinne der „Commentaires“ in „Le marteau sans maître“ von Boulez), denn seine inhaltliche Gestaltung wurde entscheidend beeinflußt durch sprachrhythmische Strukturen, poetische Bilder und Ausdrucksgebärden jenes Gedichts von Georg Heym, das am Schluß vom Tonband zu hören ist. Die Schwarzen Halbinseln sind Karlheinz Stockhausen in freundschaftlicher Verehrung gewidmet.
(York Höller)
CDs:
Münchner Philharmoniker, Ltg. G. Schmöhe
CD Biennale 5.5.2002
WDR Sinfonieorchester Köln, Ltg. Diego Masson
CD NEOS 10931/5