York Höller (*1944) Mythos
[KamEns,Tb] 1979/80 Dauer: 25'
Fl(Picc).Klar(B-Klar) – 2Hn.Trp.2Pos.Tuba – Schl(2) – Klav(Cel) – 2Vc.Kb – Tb
UA Köln, 22. März 1981
Die Menschengattung hat sich also im weltgeschichtlichen Prozeß der Aufklärung von den Ursprüngen immer weiter entfernt und doch vom mythischen Wiederholungszwang nicht gelöst. Die moderne, die vollends rationalisierte Welt ist nur zum Schein entzaubert
(J. Habermas)
Als ich 1979 die Konzeption für mein Stück Mythos entwickelte, stand ein Wiederaufnehmen der Arbeit am Mythos in der Szene der Neuen Musik noch nicht zur Debatte. Insofern darf ich hier vielleicht von einer antizipierenden Idee sprechen, einer Idee, die - wie öfters in der Geschichte der Kunst - zum unpassenden Zeitpunkt, zu früh, Wirklichkeit wurde und dementsprechend auf wenig Verständnis stieß. (Hierzulande, möchte ich hinzufügen, und sehr im Unterschied zu England und Frankreich.) Ohne die geringste Lust zu verspüren, mich auf diese seinerzeit entfesselte Polemik weiter einzulassen, möchte ich kurz auf die Vorgeschichte des Stückes zu sprechen kommen:
1976, als Boulez zum ersten Mal den RING von Wagner in Bayreuth dirigierte, saß ich - die Partitur in der Hand - am Radio und war gefesselt von der Kühnheit und dem Ausdrucksreichtum dieses Werkes, mit dem ich mich, aus mir selbst nicht ganz verständlichen Gründen, bis dahin kaum befaßt hatte. (Paradoxerweise habe ich Wagner und Makler überhaupt viel später kennengelernt als etwa Strawinsky, Bartók und die Wiener Schule.) Wichtige Erkenntnisse zum Verständnis der Tetralogie gewann ich aus der parallelen Lektüre von Der Ring und seine Symbole von Robert Donington, der die komplexen Bedeutungsschichten des Werkes mit den Methoden der Psychoanalyse von C. G. Jung interpretiert, wie auch aus der Beschäftigung mit den Schriften Jungs selbst. Dadurch tat sich für mich eine Gedankenwelt auf, deren außerordentliche Vielschichtigkeit mir aber erst durch die Dialektik der Aufklärung, bzw. die Ästhetische Theorie von Adorno vor Augen geführt wurde, in der es z. B. heißt:
Die geschichtliche Bahn von Kunst als Vergeistigung ist eine der Kritik am Mythos sowohl wie eine zu seiner Rettung: wessen die Imagination eingedenkt, das wird in seiner Möglichkeit von dieser bekräftigt. Solche Doppelbewegung des Geistes in der Kunst beschreibt eher deren im Begriff liegende Urgeschichte als die empirische.
Wenn wir von der unbezweifelbaren Tatsache ausgehen, daß in unserem Jahrhundert neben den anderen geistigen Disziplinen auch das Musikschaffen am Prozeß der sog. 2. Aufklärung teilgenommen hat und teilnimmt, so scheint mir, daß dieser Prozeß einen gewissen Höhepunkt in der Formulierung der Seriellen-Theorie gefunden hat. Nie zuvor ist das musikalische Material und die musikalische Grammatik gründlicher durchdacht und anaIysiert worden. (Ob das synthetische Vermögen in jener Phase der Schärfe des analytischen Blickes gleichkam, mag einmal dahingestellt bleiben.) Deshalb scheue ich mich nicht zu behaupten, daß gegenwärtiges kompositorisches Bewußtsein, in dem serielles Denken sich nicht niedergeschlagen hat, bzw. verarbeitet worden ist, dem Anachronismus anheimfällt. Allerdings ist jene mental-bewußte Schicht gewiß nicht die einzige, die in der Kunstproduktion wie -rezeption wirksam ist. Sie stellt gewissermaßen die letzte Stufe einer Bewußtseinsentwicklung dar, in der die früheren Formen des magischen und mythischen Bewußtseins (J. Gebser) keineswegs sozusagen abgekoppelt worden sind. Im Gegenteil, es stellt sich die Frage, ob durch das Eingedenken der Natur im Subjekt (Th. W. Adorno) nicht eine umfassendere, integrale Bewußtseinform erreicht werden kann, die durchaus nicht im Gegensatz zu den Prämissen der Aufklärung steht, sondern sie überhaupt erst verwirklicht.
Unter diesem Blickwinkel halte ich auch die Bilderfeindlichkeit des strukturalistischen Purismus für überholt, zumindest für engstirnig. Denn wenn es auch gewiß nicht die Aufgabe von Musik ist, mit ihren Mitteln Bilder wiederzugeben, so gehört das mimetische Moment doch ursprünglich zu ihr wie zu jeder Kunst.
Mimesis ist in der Kunst das Vorgeistige, dem Geist konträre und wiederum das, woran er entflammt.
So hat sich meine musikalische Imagination an folgenden, teilweise durchaus mimetischen, Vorstellungen entflammt: Der Titel Mythos bezieht sich nicht auf irgendeine Begebenheit aus dem weiten Feld der überlieferten Mythologien, sondern ist durchaus im ursprünglichen Sinn als Rede oder Erzählung zu verstehen. Doch wovon ist hier die Rede? Ich habe versucht, gewisse archetypische Erfahrungen. Urerlebnisse, die man als Gemeingut der Angehörigen zumindest unserer, d. h. der europäischen Kultur (aber nicht allein dieser) betrachten kann, auf meine Weise zu deuten und musikalisch zu gestalten. Konkret gesprochen: Dem Werk liegen teilweise vertraute poetische Bilder und Ausdruckscharaktere zugrunde, wie z. B.: Von Wind. Wasser und der Nymphe Syrinx, Hornruf und Echo, Bedrohliche Gesten, in eine Art Marcia Funèbre mündend, Silberfarbenes Nocturne, Dionysischer Rundtanz, Nachtschwarzer Hymnus usw. Die vollständige Aufzählung aller Bilder und Bezüge, deren ich mich mit dem Ziel, sie in möglichst profilierte Gestaltcharaktere zu verwandeln, bedient habe, erscheint müßig, denn poetisch-semantische Vorlage und musikalische Strukturierung gehören fraglos verschiedenen Ebenen an, und die Musik selbst will durchweg auf jener anderen Ebene, nämlich der von absoluter Musik gehört werden.
Deren melodisch-harmonische Grundlage besteht in einer 34-tönigen Grundgestalt, aus der ich 6 Basisakkorde unterschiedlicher Struktur und Komplexität sowie eine analoge 34-gliedrige Taktfolge abgeleitet habe, die im Sinn einer Talea ständig wiederholt wird. Jeder Takt entspricht - verglichen mit einem Gedicht - einer Verszeile, mehrere Verszeilen ergeben eine Strophe, mehrere Strophen ein Klanggedicht, die insgesamt 12 Klanggedichte fügen sich zu einer zyklischen Gesamtform, innerhalb derer es eine Reihe von Querbezügen und Entsprechungen gibt. Das 4-Kanal-Tonband ist keineswegs als ein sog. Zuspielband zu betrachten, sondern als ein von vornherein mitkomponierter integraler Teil des Ganzen. Die elektronischen Klänge wurden - von einigen wenigen konkreten Tamtam-Klängen abgesehen - vorwiegend mit Hilfe eines großen Synthesizers in Kombination mit einem Vocoder erzeugt. Die Komposition ist in gewisser Weise - aber keinesfalls mit vordergründig-neoromantisierender Absicht - als Hommage à Richard Wagner zu verstehen, dessen Musik mir außerordentlich viel bedeutet, da sie u. a. in einzigartiger Weise mythisches Potential und - für die damalige Zeit - klangliche Innovation miteinander verbindet. Ich bin fest davon überzeugt, daß - würde Wagner heute komponieren - er von den außerordentlichen Möglichkeiten der Elektronik reichen Gebrauch machen würde. In diesem Sinne ist der 10. Abschnitt von Mythos, in dem die Grundgestalt, im Gewand Wagnerscher Harmonik vom Tonband erklingt, aufzufassen: als musikalisches Symbol und als Huldigung an jenen schier unerreichbaren Genius der Expression und der Erneuerung.
(York Höller)
Bibliografie:
Nonnenmann, Rainer: Subjektive Expressivität, objektive Formgestaltung. Ein Porträt des Komponisten York Höller, in: MusikTexte, Heft 148, Februar 2016, S. 39-46
CDs
Realisation des Tonbandes: Studio für elektronische Musik des Westdeutschen Rundfunks, Köln
Mitglieder des Rundfunksinfonieorchesters des Südwestfunks, Ltg. Johannes Klaitzke
Deutscher Musikrat
WER 6515-2 / 286 515-2
WDR Sinfonieorchester Köln, Ltg. Diego Masson
CD NEOS 10931/5