Manuel Hidalgo (*1956) Harto
[Orch] 1982 Dauer: 22'
3(3Picc.A-Fl).3(Eh).4(B-Klar).3(Kfg) – 4.3.3.1(Tuba) – Schl(4) – Hfe – Klav(Cel) – Str: 12.12.10.8.6.
UA: Donaueschingen (Donaueschinger Musiktage), 16. Oktober 1983
Jeder Kultur wohnt eine Moral inne, welche die menschlichen Handlungen bewertet und in zwei Kategorien einteilt: gut/schlecht, positiv/negativ usw. Der Titel HARTO - zu deutsch: satt, überdrüssig - bezieht sich auf das Unbehagen, das diese dichotomische Auffassung hervorruft: eine Auffassung, die gleichwohl in uns verwurzelt ist und gerade darum den Prozeß Wahrnehmung Äußerung Kenntnis beeinflußt, ihm zugehört.
Tatsächlich wird das musikalische Phänomen dualistisch konzipiert: Klang = Ton/Geräusch; Tonhöhenanordnung = Konsonanz/Dissonanz, tonal/atonal; Struktur = symmetrischer Bau (Vordersatz/Nachsatz), das scholastische Ideal des Gleichgewichts, das seinerseits eine Symmetrieachse zur Voraussetzung hat.
Diese Strukturierung des Materials ergibt sich aus dem fast ausschließlichen Interesse des Komponisten an den expressiven Möglichkeiten des musikalischen Apparats. Die Motivation des Komponierens aus dem Drang, etwas Inneres ausdrücken zu müssen, erscheint mir jedoch heute der Grundlage zu entbehren und folglich auch unnötig. Die letztliche Daseinsberechtigung dieser Motivation liegt in der dualistischen Vorstellung, die beim Menschen zwischen Leib und Seele unterscheidet. Ein Bluff, Produkt kleinlicher Disputiersucht. Eine Analyse auf der Basis empirischer Logik stellt fest, daß es keine Seele gibt, sondern ein Nervensystem mit bestimmten Fähigkeiten, und daß nichts auszudrücken ist, weil Musik die Empfindungen des Komponisten nicht wiedergeben kann. sondern lediglich unbestimmte Eindrücke im Hörer erzeugt. Da aber jede bewußte Wahrnehmung Erkenntnis ist, wäre es nun die Aufgabe des Komponisten, Musik mit diesem Ziel, das heißt: Musik als Erkenntnismittel zu schaffen. Dies alles ist der Versuch, die Erkenntnistheorie von David Hume und anderen, späteren Epistemologen auf Musik anzuwenden. Der Beitrag des Empirismus zur Erkenntnistheorie wurde zwar in der wissenschaftlichen Forschung genutzt, fand jedoch in der Kunst kaum, in der Musik keinerlei Beachtung. Warum? Vielleicht, weil in der Musik noch immer der naive, »expressive« Komponist vorherrscht, den das elitär-bourgeoise Publikum verlangt und dem es applaudiert. Der Einwand, daß Kunst immer bourgeois war und es weiterhin ist, gibt zwar keine Lösung, sollte aber auch nicht unterschätzt werden.
Ich habe HARTO in zwei Teilen konzipiert, wobei jeder Teil im Verhältnis zum anderen sowohl irgendwie das gleiche als auch das Gegenteil darstellt. Der Grund für diese Zweiteilung des Werkes ist leicht aus dem vorhin Gesagten abzuleiten. Als Vorarbeit zur Komposition habe ich versucht, die historische dichotomische Gestaltung des Materials besonders hervorzuheben, und zwar durch eine Potenzierung jener Aspekte, die diesen -zweigeteilten« Charakter in sich tragen. Ich habe also den Zeitverlauf lediglich als eine Folge von Spannungs- und Entspannungs-Einheiten betrachtet; ich habe Tonhöhen-Anordnungen verwendet, die ausschließlich auf Symmetrie beruhen; ich habe zweiteilige Strukturen aufgebaut, deren Hälften durch eine Pause mit konstantem Wert geteilt sind; ich habe - je nach den Möglichkeiten des Orchesters - den Geräusch- oder Tonanteil des Klanges übertrieben. Dieser Gedankengang wurde im Hinblick darauf realisiert, neue Anwendungsmöglichkeiten zu finden, die für das Ziel einer Musik als Erkenntnismittel von Nutzen sein können.
(Manuel Hidalgo)