Michael Gielen (1927–2019) die glocken sind auf falscher spur
Melodramen und Zwischenspiele mit Gedichten von H. Arp 1967-69 Dauer: 30' Text: Hans Arp
Spr – S – Git – Vc – Klav – Schl – Tb
UA: Saarbrücken, 31. Mai 1970
War „Ein Tag tritt hervor“ auf die Zahl 5 gegründet und deshalb eine Pentaphonie, so ist „die glocken sind auf falscher spur“ eine Hexaphonie nicht nur, weil die Ausführenden sechs sind. Fünf Intervalle müssen immer durch sechs Noten fixiert werden. Beide Stücke gehören aber auch sonst zusammen. Der Tonhöhenablauf, also das Reihenmaterial usw., ist identisch, auch beide Male in derselben Reihenfolge mechanistisch geordnet. Das Form-Schema ist dasselbe, d.h. es wechseln Strophen oder Hauptteile mit lockeren Zwischenspielen ab, Das Ganze ist um einen Mittelteil zentriert. Es ist jedoch die relative Naivität des Komponierens zunehmend gewichen. Auf die fünf „Stücke“ folgt ein sechstes, das versucht, die Problematik, in der sich der Komponist befindet, vor Augen, oder besser: vor Ohren zu führen. In einem gewissen Stadium der Komposition, die sich über drei Jahre hinzog [1967-69], kamen Kommentartexte dazu, die jedoch bei jeder Aufführung auswechselbar sein sollten mit völlig anderen. Meine Textauswahl für die Uraufführung [am 31. Mai 1970 bei der Saarbrücker „Musik im 20. Jahrhundert“] brachte dann als Konsequenz ein sechstes Stück, in dem die Zusammenhänge definiert werden, in dem diese Musik notwendigerweise verstummt. Die Sache hat eine Eigengesetzlichkeit entwickelt, der ich mich beuge. Die Tür aus dem Elfenbeinturm heraus ist aufgestoßen. Dahinter ist eine ganz andere Musik, oder gar keine. Im ersten Stück ist den drei Ausführenden ein Material gegeben mit gewissen Spielregeln. Alles außer den Tonhöhen ist so vage wie möglich gehalten. Im Mittelteil ist die Rhythmik der kleinen Objekte, die gespielt werden, aus der Prosodie des Gedichtes abgeleitet. Das zweite ist ein Duett für die Sängerin und den Cellisten. Tonhöhen und relative Dauern sind fixiert, also eine Dimension mehr als im ersten. Im dritten wird das Geklingel der Einleitung aufgenommen, geht in Instrumentalmusik über, diese verwandelt sich durch Anpassung wieder in den Metallklang, der am Ende herrscht. Dieses Stück ist direktional: der Ausbruch ist in nuce vorhanden, die Musikanten proben den Aufstand. Im zweiten und dritten Stück war die Vertikale, das Zusammenspiel fixiert. Vom vierten an wird sie immer ungewisser, d.h. Tendenzen des ersten Stückes setzen sich durch. Vom vierten Stück an werden Charaktere von Durchführung und Reprise immer deutlicher. Von Bändern werden aufgenommene Varianten der ersten drei Stücke dazugespielt. Das zweite zum vierten, alle drei zum fünften. Waren im dritten Stück alle Teilnehmer gleichberechtigt (Tutticharakter), so ist im vierten das Duett Stimme/ Gitarre dominierend, als Pendant zum Duett Cello/ Stimme im zweiten. Im fünften Stück spielt das Klavier die Hauptrolle. Die Vereinsamung der Teilnehmer wird größer. „Inniges“ zwischen Cello und Stimme wirkt schon wie Inseln. Die Beziehung zum ersten Stück ist teils größter Kontrast (hier sechs Protagonisten, dort drei Anonyme), teils Austragen von Immanentem. Das sechste ist wieder direktional: Spielen - singen - sprechen - flüstern. Und dann mechanisches Wiederholen von Früherem, toten Floskeln. Auch das wird immer weniger, bis es stehenbleibt, sozusagen in der Mülltonne. Bloch hat mit der Frage, ob es heitere Musik gebe (die er Schubert in den Mund legt), vielleicht zu kurz gegriffen. Sie muß vielleicht schon lauten: Gibt es Musik?
(Michael Gielen)
CD:
Siegfried Palm, Hanna Aurbacher, Wilhelm Bruck, Bernhard Wambach, Christoph Caskel, Bernhard Kontarsky, Ltg. Jochen Bartels
Gielen Edition
Intercord INT 860.921