Márton Illés (*1975) Tér-szín-tér
[Orch] 2020/24 Dauer: 13'
2.1.2.1 – 6.2.2.1 – Schl – 2E-Klav – Str: 6.6.4.4.3
Uraufführung: Essen (NOW!-Festival), Philharmonie, 10. November 2024
Auftragswerk des Gürzenich Orchesters Köln mit freundlicher Unterstützung der Ernst von Siemens Musikstiftung
„Da musste ich alles komplett umdenken“
Márton Illés im Gespräch mit Michael Struck-Schloen
Deine Werke stehen in Köln regelmäßig auf den Programmen: 2011 hast du mit den Bamberger Symphonikern das Klavierkonzert „Rajzok II“ in der Philharmonie herausgebracht, das Kölner Asasello-Quartett hat seine Streichquartette im Repertoire, vor einem Jahr hat Patricia Kopatchinskaja im WDR-Funkhaus das Violinkonzert „Vont-tér“ uraufgeführt. Das neue Werk „Tér-szín-tér“ ist jetzt ein Kompositionsauftrag des Gürzenich-Orchesters, der von der Ernst von Siemens Musikstiftung unterstützt wurde ‒ das klingt nach einem großen Projekt …?
Das sollte es auch werden, denn ursprünglich war ein großes Orchesterstück vorgesehen. Dann kam Corona, und das Gürzenich-Orchester hat mich gefragt, ob ich mich in dem neuen Stück den Abstandsregeln und Hygieneauflagen anpassen könnte ‒ durch die Verkleinerung der Besetzung auf die Hälfte und die Verteilung der Instrumente im Raum. Da musste ich alles komplett umdenken und habe eine Raumkonzeption entworfen. Das Publikum ‒ das es jetzt leider nicht geben wird ‒ befindet sich idealerweise mitten im Saal und ist umgeben von Holz- und Blechbläsern auf den Rängen und Balkons der Philharmonie. Auf der Bühne gibt es 23 Streicher, Schlagzeug und zwei E-Pianos.
Hat diese Aufteilung im Raum Einfluss auf die Musik von „Tér-szín-tér“?
Natürlich, ich habe eine sehr intensive Raumbewegung der Klänge geplant und hoffe, dass man das auch im Live-Stream verfolgen kann. Es gibt einen klaren harmonischen Zusammenhang des Orchesters, aber durch die Entfernung der Instrumente wirkt die Musik wie zerfranst. Das Stück beginnt mit besonderen, seltsam flatternden Mehrklängen von zwei Flöten, die ich selbst erfunden habe ‒ wobei die eine Flöte hoch über dem Orchester, die andere hinter dem Publikum spielt. Die Klangereignisse sind also meist räumlich weit getrennt, dass man sie gut verfolgen kann. Außerdem spielen zwei Hörner von außerhalb des Saales, was eine weitere Perspektive öffnet.
Welche Rolle spielen die beiden E-Pianos?
Die bringen die Klänge zum „Schielen“. Beide E-Pianos sind ein Viertelton höher gestimmt als die übrigen Instrumente. Und wenn am Beginn des zweiten Satzes ein E-Piano mit dem Vibrafon zusammenspielt, dann ergibt das diesen eigentümlich schielenden Klang.
Der zweite Satz entwickelt sich nach dieser Einleitung fast zu einem Streicherstück ‒ die Noten dazu wirken mit ihren Akkordtürmen und vielen Verbindungslinien für die Tonschleifer wie ein grafisches Kunstwerk. Aber auch die Musik wirkt hier sehr körperlich.
Das stimmt, es gibt da sehr schroffe Gesten und körperhafte Klänge. Aber letztlich kommt alles in meiner Musik aus körperlichen Reflexen ‒ aus einer plötzlichen Geste des Armes, aus muskulären Äußerungen von Freude, Erschrecken oder Schmerz. Solche Reflexe sind Abfolgen von kurzen, komplexen An- und Entspannungsvorgängen im Körper. Diese Verläufe interessieren mich.
Es gibt von dir schon mehrere Werke, die im Titel das ungarische Wort „tér“ führen ‒ jetzt taucht es gleich zweimal auf: „Tér-szín-tér“.
„Tér“ bedeutet „Raum“, „szín-tér“ so viel wie Szene, Schauplatz oder Farbraum. Deshalb gibt es hauptsächlich Orchesterstücke mit diesem Titel, bei denen das perspektivischen Hören eine wichtige Rolle spielt. Frühere Orchesterstücke hießen etwa „Víz-szín-tér“ (Wasserszene mit fließenden „Wassertexturen“), „Ez-tér“ (ein Raum, der das freudianische „Es“ erkundet) oder „Vont-tér“ (gestrichener Raum ‒ das Violinkonzert). Der Titel „Tér-szín-tér“ rückt durch die Verdoppelung den Raum noch mehr ins Zentrum ‒ für den Komponisten und für das Publikum. Ich denke beim Komponieren meist räumlich-perspektivisch, arbeite mit dem Wechsel von Einzelspielern und Masse, von ganz mageren Klang-Körpern, die im Kontrast stehen zur Masse, zur großen Perspektive. Meine Musik ist nie statisch, sondern immer flexibel, ständig in Bewegung ‒ wie die Natur.
(Gespräch anlässlich der Uraufführung im Januar 2021 in der Kölner Philharmonie)