Martin Smolka (*1959) Sicut Nix
3 Gesänge für Chor nach Textausschnitten von H. D. Thoreau und aus den Psalmen [Ch] 2019/20 Dauer: 17' Text: Henry David Thoreau
Chor: 6S6A6T6B
Uraufführung: Stuttgart, 14. Mai 2022
Auftragswerk des Südwestrundfunks
In Winter Walk beschreibt Thoreau den vielen Schnee, wie ich ihn aus meiner Kindheit in Erinnerung habe. Ich habe sorgfältig diejenigen Worte ausgesucht, die nicht nur seine Beobachtungen benennen, sondern sie mit ihrem Klang hervorrufen. Dabei fand ich häufig Gruppen von Worten, in denen der „r“-Klang dominiert sowie jene, in denen „m“ und „n“ vorherrschen. Ich habe sie voneinander getrennt und wiederholt, um das Bild eines Wintermorgens zu erschaffen: „murmuring morning”, “the roofs under their snow burden”, “the trees rear white arms”. („murmelnder Morgen“, „die Dächer unter ihrer Schneelast“, „die Bäume strecken weiße Arme aus“) Für das Bild der stillen, bewegungslosen Natur, die unter dem Schnee verdeckt liegt, habe ich Worte, die vorwiegend aus „l“, „w“ und „s“ bestehen, zusammengestellt: “snow lies, all snow”, “a lurid light in the east” („Schnee liegt, alles ist Schnee“, „ein grelles Licht im Osten“) etc. Diese Worte wurden vervielfältigt, indem sie sich von Stimme zu Stimme bewegen, mehr gesummt als gesprochen, eher durch ihr Timbre als durch ihre Bedeutung kommunizierend.
Im zweiten Satz werden die halb gesungenen, halb geflüsterten Worte immer schneller vervielfacht und erzeugen so Wolken von Phonemen, hauptsächlich Zischlaute – sie erinnern an die im Wind wirbelnden Schneeflocken: „All the air has been alive with feathery flakes descending, as if some northern Ceres reigned showering her silvery grain over all the fields“. Worte werden wie Schneeflocken behandelt, es gibt genügend von ihnen, die wirbeln und treiben – um ein Bild des Schnees im Wind zu zeichnen. Mein geliebter Schnee.
Der dritte (und letzte) Satz zeigt den tieferen Zusammenhang auf. Es mag überraschend scheinen, wie oft die Bibel, unter den zahlreichen Beschreibungen der Schönheit der Schöpfung, den Schnee erwähnt. Das Buch, das allem Anschein nach in einem heißen Klima irgendwo in der Nähe von Wüsten geschrieben wurde, beschreibt den Schnee unter anderem im Psalm 147: „He gives snow like wool, He scatters the hoarfrost like ashes, He casts forth His ice like morsels, Who can stand before His cold...” („Er gibt Schnee wie Wolle, er zerstreut den Raureif wie Asche, er wirft sein Eis wie Happen aus, wer kann vor seiner Kälte bestehen …“) Für den dritten Satz gibt es zwei Versionen. Die einfachere der beiden verlängert lediglich das Fallen des Schnees (den eben zitierten Text). Die andere, die Danksagung, ist für Sänger wirklich schwer. Es ist ein Text über gewaltige Räume: “Who stretches out the heavens like a curtain”, “who covers Thyself with light”, “who makes the clouds His chariot”. (“Wer breitet den Himmel aus wie einen Vorhang“, „Wer bedeckt Dich mit Licht“, „Wer macht die Wolken zu seinem Streitwagen“) Frauenstimmen werfen ihre Kantilenen wieder und wieder so hoch, als wollten sie den Himmel berühren.
(Martin Smolka)
1. Murmuring Morning |
2. Feathery Flakes |
3. Wings of WInd |
4. He Gives Snow |