Edison Denissow (1929–1996) Lazarus
Vervollständigung des Fragments D 689 von Franz Schubert [Soli,GCh,Orch] 1995 Dauer: 55'
Soli: 3S3TB – Chor: SSAATTBB – 2.2.2.2. – 2.0.3.0. – Pk – Str
Uraufführung der vervollständigten Fassung: Stuttgart, 21. Januar 1996
Uraufführung der konzertanten Fassung: Graz, 1999
Libretto: August Hermann Niemeyer nach dem Johannes-Evangelium, 11, 1-45
Ort und Zeit: Garten vor einem ländlichen Haus, grüne Flur voller Grabsteine mit Palmen und Zedern umpflanzt, vor einem Wäldchen mit Lazarus Haus im Hintergrund, zu Lebzeiten Jesu
Personen: Lazarus (Tenor) - Jemina (Sopran) - Maria (Sopran) - Martha (Sopran) - Nathanael (Tenor) - Simon (Bass) - Ein Jüngling (Tenor)
Der Handlung liegt die biblische Geschichte vom Tod des Lazarus und seiner Erweckung durch Jesus zugrunde. Von Schuberts Vertonung ist nur der Teil bis zur Grablegung des Lazarus überliefert; die Blätter mit der Fortsetzung sind wahrscheinlich verlorengegangen. Ob Schubert jedoch bei seiner Vertonung bis zur Wiedererweckung gekommen ist, bleibt ungewiß. Denissow verwendete bei seiner Vervollständigung zentrale Themen Schuberts und ging auch auf die überlieferte Orchesterbesetzung des dreiaktig und szenisch konzipierten Werks zurück.
CD:
Gächinger Kantorei Stuttgart
Bach-Collegium Stuttgart
Helmuth Rilling
Hänssler CD 9811
Fragment und Ergänzung
Als mir Helmuth Rilling im Oktober 1994 den Vorschlag unterbreitete, Schuberts Lazarus zu vollenden, hatte ich allerhand Zweifel, ob dies überhaupt möglich bzw. erforderlich sei.
Schubert hat in seiner Partitur den ersten Akt gänzlich, den zweiten nahezu vollendet, mitten in der Arie der Martha (Takt 595 des zweiten Akts) hat er die Arbeit unterbrochen. Es galt also, den ganzen dritten Akt neu zu komponieren und dies habe ich nun getan. Meine erste Frage war: Wie kann man so ein Werk ergänzen? Im Stile Schuberts wollte ich nicht schreiben ich glaube, so etwas ist auch ganz unmöglich. Es wäre fraglos der falsche Weg gewesen, ohne Schuberts Begabung seinen ureigenen Stil nachbilden zu wollen. Mit Collagen ein gutes Geschäft zu machen, ist wohl sicher ohne weiteres möglich, doch werden daraus kaum richtig gute Ergebnisse entstehen. Zudem konnte ich meine eigene Schreibart niemals verleugnen bzw. radikal ändern. Es kam also darauf an, ein Gebäude zu errichten, ohne zerstören zu müssen. So war ich zu einer Lösung gezwungen, die Schuberts Gedanken weiterführend die musikalische wie dramatische Handlung fortentwickeln sollte.
Schuberts Werk ist sehr szenisch angelegt, und der dritte Akt ist durch seine Dramaturgie der vielleicht szenisch wirksamste. Die Problematik der Rekonstruktion des Lazarus liegt weit entfernt beispielsweise von der einer unvollendeten Sinfonie oder eines Werkes wie Schönbergs Moses und Aron. Diese beiden Werke sind in meinen Augen gänzlich unvollendet; ich kann mir keine weiteren Sätze zu Schuberts Unvollendeter oder einen dritten Akt von Moses und Aron vorstellen. In Schönbergs Oper ist mit dem zweiten Akt jegliche Aktion beendet, während beim Lazarus die Musik regelrecht abbricht. Nur kann ohne den dritten Akt und hier wird der Unterschied evident Lazarus als Kunstwerk nicht bestehen; die Auferweckung bildet das Zentrum des Werkes, seinen immanenten Höhepunkt. Die dramatische Gestaltung des dritten Aktes ist wesentlich verdichtet, der Chor beteiligt sich nun unmittelbar an der Handlung. Es ist das religiöse Drama der Auferstehung, das ohne die leibliche Auferstehung des Lazarus undenkbar ist.
Schubert hat in seinem Fragment niemals musikalische Symbole wiederholt. Ich habe mich entschlossen, einige Schubert-Motive im Finale des zweiten Akts (Rezitativ des Nathanael) sowie im dritten Akt einzuführen, tat dies aber mit aller gebotenen Vorsicht. Der dritte Akt beginnt mit der Wiederholung der Einleitung des Werkes, ebenfalls in A-dur. Das erste Motiv des Lazarus (Takt 16 im ersten Akt) habe ich als eine Art Leitmotiv behandelt, das im Augenblick der Auferstehung wiedererscheint. Das zweite Leitmotiv es erklingt mehrfach im dritten Akt und beschließt das ganze Werk steht bei Schubert im ersten Akt nach den Worten des Lazarus Jetzt ists hell um mich wie Morgenlicht (Takte 250ff.).
Dieses Motiv wird als Symbol des ewigen Lichtes im dritten Akt mit dem Namen Gottes und dem Auferstehungsgedanken verknüpft. In derselben Tonart D-dur, in der es bei Schubert erscheint, habe ich das Werk auch ausklingen lassen. D-dur hat für mich als Symbol des Glaubens des Lichtes eine besondere Bedeutung (Der Schaum der Tage [Oper, 1981], Requiem).
Unter der Zielsetzung, jede Art von Stilkopie zu vermeiden, war ich dennoch bestrebt, Schuberts formale Konstruktionsprinzipien zu beachten. In den Arien, die ich für den dritten Akt geschrieben habe, ist dies, so denke ich, deutlich geworden. Bevor ich mit den Kompositionsarbeiten beginnen konnte, habe ich die Partitur des Lazarus analysiert. Es war außerordentlich wichtig für mich, in das Wesen von Schuberts Arbeit einzudringen, all die Motivkerne und Modulationen zu verfolgen und die Gestaltungsprinzipien seiner Musik letztlich besser verstehen zu können.
Sicherlich war es eines meiner Anliegen, das Publikum am Ende der Schubertschen Partitur nicht zu enttäuschen. Es sollte nicht das Gefühl haben, die Musik sei auf einmal weniger gut geraten und hätte ihren Charme und ihre melodische Ausdruckskraft verloren. Ich denke, es ist wesentlich einfacher, verlorengegangene Fragmente inmitten eines Werkes zu rekonstruieren (wie ich es bei Debussys Rodrigue et Chimène getan habe), als dessen nicht erhaltenen zweiten Teil zu schreiben. Dies bedenkend, ist mir einmal mehr klar geworden: Ich werde nie besser schreiben als Schubert, und schon aus diesem Grund lehne ich den Gedanken ab, seinen Stil zu kopieren. Vielmehr möchte ich mich von eigener musikalischer Eingebung leiten lassen und eine eigene Sprache sprechen, die nicht von der Rekonstruktion eines Modells begrenzt wird.
Im dritten Akt habe ich Pauken eingeführt, die in der Partitur Schuberts fehlen. Sie setzen im letzten Takt des zweiten Akts ein (tremolo pianissimo auf G) und werden im dritten Akt mehrfach solistisch behandelt. Ihr Thema ist das Motiv des Jüngsten Gerichts, welches auf Simons Worte Die Gräber sie sinken unter mir! Die Donner Schlag auf Schlag! erscheint und eine wesentliche Rolle im musikalischen Ablauf des dritten Akts spielt.
Franz Schubert ist seit jeher einer der Komponisten, die mir am nächsten stehen (neben Mozart und Glinka). Für mich wohnt seiner Musik immer das Symbol ewiger Schönheit und menschlicher Aufrichtigkeit inne (von ihrer kompositorischen Vollkommenheit ganz zu schweigen). Ich bin zwar kein Freund von Zitaten und lehne Collagen oder das, was sich polystilistisch nennt und nur zu oft unoriginell primitiv bedeutet ab, dennoch habe ich in meinem Werk Schuberts Musik in zwei Fällen zitiert: den Morgengruß aus dem Zyklus Die schöne Müllerin im Finale des Violinkonzerts und sein Impromptu As-dur op. 142, das die Grundlage für den Schlusssatz meines Bratschenkonzerts bildet und aufs engste mit dessen innerem Programm verknüpft ist. Das Liedzitat im Violinkonzert hat einen ähnlichen Stellenwert wie Bachs Choral Es ist genug in Alban Bergs Violinkonzert. Ich verstehe diese für mich sehr bedeutsamen, gewissermaßen ehrfürchtigen Zitate als Huldigungen an Schubert, auch wenn sie nur einen kleinen Teil meiner Hommage bilden. Zu ihr zähle ich weiterhin die Orchestrierung des Ave Maria sowie die Instrumentierung von sechs Walzer-Zyklen in zwei Fassungen für Solistenensemble bzw. Sinfonieorchester. Niemand gab mir einen derartigen Auftrag, ich tat dies nur für mich selbst (einige der Walzer-Bearbeitungen wurden bis heute nicht aufgeführt). Ich wollte diese wunderbare Musik nochmals entziffern und mich gleichzeitig vor ihr und ihrem Schöpfer verneigen.
(Edison Denissow)