Jörg Birkenkötter (*1963) Gekippte Genauigkeiten
Stück für Orchester mit obligatem Klavier [Orch] 1996 Dauer: 15'
2(Picc).2.2(B-Klar).2(Kfg) – 4.2.2.0. – Hfe – Klav – 2Pk.Schl(3) – Str: 12.10.8.6.5.
UA: Darmstadt (Darmstädter Ferienkurse), 14. Juli 1996
Das Stück unternimmt den Versuch einer Gratwanderung zwischen traditionellen, scheinbar vertrauten Form- und Klangelementen und deren veränderten Funktionen innerhalb eines musikalischen Verlaufs, der nicht mehr den ursprünglich mit ihnen verbundenen formbildenden Prinzipien gehorcht.
Es lassen sich mehr oder weniger deutlich "klassische" Elemente wie die Gegenüberstellung zweier kotrastierender quasi "thematischer" Abschnitte zu Beginn, später dann Kadenz, Reprise und Coda erkennen. Sie lassen sich jedoch nicht mehr auf eine verbindliche traditionelle Syntax zurückführen, sondern entwickeln aus sich selbst heraus neue Formkriterien, die keiner Konvention folgen.
So ist zum Beispiel die "Reprise" nicht ein Wiedereinmünden ins Vertraute, hat also keine abrundende, bestätigende, formalen Zusammenhang herstellende Funktion, sondern versucht vielmehr, die Kontinuität des formalen Prozesses aufzusprengen, indem eine bereits vollzogene musikalische Entwicklung von neuem beginnt, um sich dann aber in ganz anderer Richtung fortzusetzen. Ähnliches findet sich auch auf der Ebene des verwendeten Klangmaterials selbst:
Klavier-Akkordfolgen, Doppeltriller, chromatische Skala, aber auch Blechbläser-Signale, Orchesterpedal u.a. sind Ausgangs- oder Bezugspunkte, um von dort aus in ganz andere, neue Klang- und Wahrnehmungsräume vorzustoßen.
Die verschiedenen Ebenen des Stückes sind so zwar mit größtmöglicher "Genauigkeit" aufeinander bezogen, erscheinen aber in ihrer Funktion mehr und mehr "gekippt".
In diesem Zusammenhang fungiert das Klavier zunächst als "Impulsgeber", der im Orchester gleiche, ähnliche, dann auch sich deutlich transformierende Klänge auslöst.
Im weiteren Verlauf löst sich das Klavier dann vom Orchester, steht ihm gegenüber, verschmilzt wieder mit ihm oder ist als ein Orchesterinstrument unter vielen am Geschehen nur partiell beteiligt.
Daher bleibt die Frage, ob es sich denn nun um ein Klavierkonzert handelt oder nicht, offen, ist selbst Teil des Spiels mit bestimmten Erwartungshaltungen und bestimmt so den Verlauf der Musik mit.
Der Titel des Stückes ist ein Zitat aus einem Gedicht von Lioba Happel, die ich während meines Aufenthaltes in der Villa Massimo kennenlernte und der ich wichtige Denkanstöße verdanke, auch wenn es sich bei diesem Stück nicht um eine direkte Auseinandersetzung mit ihrer Lyrik handelt.