Editorial


Mahlers Symphonien ziehen die Summe aus der an Höhepunkten reichen symphonischen Tradition des „langen 19. Jahrhunderts“.1 Gleichzeitig markieren sie den Aufbruch in die Moderne. Trotz ihrer widersprüchlichen Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte gehören sie heute zum festen Bestandteil des klassischen Konzertrepertoires.

Das 300-jährige Verlagsjubiläum 2019 ist der geeignete Anlass, um an zwei Ereignisse von historischer Bedeutung zu erinnern, die unabhängig voneinander in Leipzig ihren Beginn nahmen. Von 1886 bis 1888 wirkte Mahler als Kapellmeister neben Arthur Nikisch am Leipziger Stadttheater. Dort begann seine Karriere als einer der bedeutendsten Dirigenten seiner Zeit, dort begann auch sein Weg als einer der größten Symphoniker überhaupt mit der Komposition seiner beiden ersten Symphonien. Zur gleichen Zeit startete Breitkopf & Härtel in Leipzig mit dem Aufbau einer der umfangreichsten und vollständigsten Repertoiresammlungen, der Partitur- und Orchester-Bibliothek, aus der auch Mahler als Dirigent viele seiner Konzertaufführungen geleitet hat. Seine eigenen Symphonien waren allerdings nicht dabei. Sie erschienen in der Folge in verschiedenen anderen Verlagen. Die Edition aller Symphonien Mahlers in Breitkopf & Härtels Partitur- und Orchesterbibliothek knüpft inhaltlich an die Symphonie-Bände der Kritischen Gesamtausgabe an, die, ab 1960 von der Internationalen Gustav-Mahler-Gesellschaft herausgegeben, in den Verlagen Universal Edition, C. F. Peters, C. F. Kahnt und Bote & Bock erschienen. Ihr Anliegen war es, auf der Grundlage der zu dieser Zeit bekannten und verfügbaren Quellen erstmals einen verlässlichen Notentext der dort so genannten „endgültigen Fassung“ vorzulegen. Den Grundstein dafür legte der Schönberg- und Webern-Schüler Erwin Ratz. Als hervorragender Mahler-Kenner setzte er sich – teils sogar gegen die von Erstverlegern vorgebrachte Skepsis – für eine Kritische Gesamtausgabe ein, weil er erkannt hatte, dass die Fehlerhaftigkeit der bisherigen Ausgaben ein entscheidendes Hindernis war, Mahlers Symphonien im Konzertrepertoire zu etablieren. Ratz‘ verdienstvolle Arbeit wurde nach seinem Tod 1973 von Karl Heinz Füssl und anderen Herausgebern weitergeführt. Im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe erschienen in der Folge eine ganze Reihe verbesserter Folge- und korrigierter Neuauflagen.

Eine derartige Fülle unterschiedlicher kritischer Ausgaben mag überraschen. Die Gründe dafür sind jedoch vielgestaltig, sie liegen zum einen in Mahlers Komponierweise, die in hohem Maße ein „work in progress“ darstellt, zum anderen in der komplizierten und teilweise verworrenen Quellenlage. Mahler zielte mit seinen unablässigen Revisionen zwar auf eine endgültige Werkgestalt, vermochte sich dieser aber aus verschiedenen Gründen nur anzunähern. Der wichtigste Grund mag jedoch der sein, dass Mahler als Komponist und Dirigent zwei widerstreitende Rollen in sich vereinte. Für einen Editor ist es deshalb schwer zu entscheiden, ob die (auch nach der Drucklegung) von ihm immer wieder vorgenommenen Retuschen speziellen Aufführungsbedingungen geschuldet und insofern nur situativ bedingt sind, oder ob sie seinem letzten kompositorischen Willen entsprechen. Darüber hinaus stellt die äußerst komplexe und unübersichtliche Quellenlage, resultierend aus dem prozesshaften Charakter von Mahlers Schaffensweise, eine gewaltige editorische Herausforderung dar. Wegen der außergewöhnlichen Menge des aufzuarbeitenden Quellenmaterials geriet die Kritische Gesamtausgabe damit selbst zu einem „work in progress“, zumal einige Quellen anfänglich nicht einbezogen worden waren, weil ihr Verbleib bzw. ihr Quellenwert erst später bekannt wurden.

Das Anliegen der Kritischen Gesamtausgabe, durch die Bereitstellung verlässlicher Notentexte den Grundstein dafür zu legen, Mahlers Symphonien im Konzertleben zu etablieren, hat sich glücklicherweise seit dem Erscheinen der ersten Bände vor mehr als einem halben Jahrhundert in zweierlei Hinsicht erfüllt. Inzwischen gehören die Symphonien nicht nur zum Kanon der klassischen Konzertwerke, auch der Notentext der Kritischen Gesamtausgabe hat sich in der musikalischen Praxis als Standardtext durchgesetzt. Ungeachtet dieser erfreulichen Mahler-Renaissance musste der Benutzer eine ganze Reihe von praktischen Problemen in Kauf nehmen. Nicht nur inhaltlich erschien die Vielfalt unterschiedlich weit revidierter Ausgaben verwirrend. Auch die Übereinstimmung zwischen Partitur und Aufführungsmaterial war dadurch nicht immer gewährleistet. Dass bei den vielfachen Revisionen der Kritischen Gesamtausgabe deren Ergebnisse lediglich in die alten, inzwischen nicht mehr zeitgemäßen Stichbilder der Erstdrucke eingearbeitet wurden, erschwerte die Unterscheidung zwischen den divergierenden Ausgaben zusätzlich und trug nicht zur Verbesserung der Stichbilder bei.

Die Edition von Breitkopf & Härtel möchte nun an den genannten Punkten Abhilfe schaffen. Sie verfolgt in erster Linie praktische Anliegen. Der Neusatz von Partitur und Orchesterstimmen in größerem Format und Rastral sorgt erstmals für ein einheitliches Erscheinungsbild und optimale Lesbarkeit. Besonderes Augenmerk wurde auf die Praktikabilität der Orchesterstimmen gelegt, die in Zusammenarbeit mit Bibliothekaren führender Orchester erarbeitet wurden und die neben selbstverständlichen Notwendigkeiten wie umfangreichen Orientierungssystemen (Stichnoten, Zählhilfen, strukturelle Pausen), Wendemöglichkeiten und dergleichen auch weitere, teils sehr spezielle praktische Aspekte berücksichtigen, wie transponierte Stimmen für heute nicht mehr gebräuchliche Wechselinstrumente oder zusätzliche Stimmen, wie z. B. für die von Mahler mitunter gewünschte Verstärkungen des Orchesterapparates.

Ausgehend von einer mutmaßlichen „Fassung letzter Hand“, die sich in der musikalischen Praxis inzwischen durchgesetzt hat und die ihrerseits wiederum Grundlage für die Arbeit unzähliger Mahler-Forscher war, erschien jedoch eine erneute kritische Durchsicht des Notentexts geboten, um eine größere inhaltliche Verlässlichkeit zu bieten. Ohne die Quellenbewertung der Kritischen Gesamtausgabe grundsätzlich in Frage zu stellen, konnte eine große Anzahl an Präzisierungen im Notentext erreicht, sowie editorische Unstimmigkeiten und seitdem bekannt gewordene Fehler berichtigt werden. Über diese Fälle gibt der Revisionsbericht Auskunft. Dort finden sich zudem wesentliche Informationen zu den Quellen, ihrer Entstehung und Überlieferung sowie zu editorischen und aufführungspraktischen Besonderheiten.

Es ist bei der Mehrzahl von Gustav Mahlers Werken nicht möglich, eine bis ins letzte Detail endgültige Fassung oder gar einen „Urtext“ zweifelsfrei zu benennen. Mahler selbst strebte zeitlebens nach einem „Finaltext“, einer endgültigen idealen Werkgestalt und wurde im Streben danach – aus heutiger Sicht – nur durch seinen zu frühen Tod aufgehalten.

Es sei daher abschließend auf einen Rat verwiesen, den der Komponist dem Dirigenten Otto Klemperer bezüglich des Umgangs mit seinen Notentexten gab: „Falls nach meinem Tode irgend etwas nicht richtig klingt, ändern Sie es. Sie haben nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, das zu tun.“2 In diesem Sinne möchte die vorliegende Edition zu einem verantwortungsvollen und kreativen Umgang mit dem genialen Werk Mahlers anregen.

Für zahlreiche freundliche Hinweise von Orchesterbibliothekaren, Musikern und Dirigenten sei an dieser Stelle ganz herzlich gedankt.

Wiesbaden, Frühjahr 2019

Christian Rudolf Riedel

1 Vgl. Constantin Floros, Gustav Mahler, 3 Bde., Wiesbaden 1977–1985, hier besonders Bd. 2 Mahler und die Symphonik des 19. Jahrhunderts in neuer Deutung.

2 Peter Heyworth, Gespräche mit Klemperer, Frankfurt a. M. 1974, S. 48.