Nicolaus A. Huber (*1939) WEISSE RADIERUNG
[Orch] 2006 Dauer: 18'
3(Picc.AFl).3.3.3(KFg). – 4.3.3.0. – Pk.Schl(3) – Klav.Akk.Cel – Str: 14.12.10.8.6.
UA: Köln (Musik der Zeit), 7. Dezember 2006
WEISSE RADIERUNG, ein Auftrag des WDR Köln, sollte etwas mit Konstruktion oder Kalkül und Ausdruck zu tun haben. In der Tradition der Sprengung der Affektenlehre hin zum subjektiven Ausdruck von Empfindungen und Gefühlen durch C. Ph. E. Bach hat Beethoven diese Seite der Musik zukunftsweisend radikalisiert und eine neue Geschwindigkeit des kurzzeitigen Ausdruckswechsels in sie eingeführt. Damit hat er nicht nur den Ausdruck überhaupt verändert, sondern durch Kombination verschiedener Ausdrucksdetails gewaltige Montagen komponiert, die der Einheitsdiktatur beharrender Empfindungen, ja vielleicht auch unserem Gefühl, wir wären Privatbesitzer unserer Gefühle, immer wieder herbe Schläge versetzen. Die motivische Strukturtechnik schärft und charakterisiert die Details zu unverkennbaren Einheiten, ohne die der spätere serielle Punkt und die verschiedenen Lösungen des Problems Einheit bei Webern oder Nono nicht denkbar wären. Auch nicht die zugemuteten Geschwindigkeiten radikaler serieller Texturen.
ACH! und bei Schubert hören wir nicht nur „am fernen Horizonte ...“, „lockte mich ein Irrlicht hin ...“, auch: „es zieht ein Mondenschatten als mein Gefährte mit ...“. Intervalle – bevorzugt die Oktave und die enharmonisch spaltbare Prim –, gegenüber gestellte Spiegelbilder, symmetrisch geteiltes Quintenzirkel-Material u. ä. zeigen uns – wie eingesperrte Töne – selbst als Eingesperrte. Da leiden wir noch!!!
Plötzlich sagt Verlaine, la lune sei blanche und Satie gibt dem ganzen Grimassensauerkrauttopf einen erneut radikalen Fußtritt und schreibt über ein Prélude „En blanc et immobile“. Wir leben mit den Sternen, nicht emotionsfrei, aber universeller, ohne Psychomief. Den überlassen wir dem Fernsehen!
Aus der Quantenwelt wissen wir: Messungen können zerstören, Messungen vereinfachen. Solche Messungen sind in der Musik die Notation, die Analyse, das genaue Spiel im Augenblick. Will man diesen Fixierungen entgehen, muss man auch die alte Übercharakterisierung (jeder Ton ist einmalig) verunschärfen, damit neue Beweglichkeit von Teilchen möglich wird, die jetzt nicht mehr ihre Grenzen an den Grenzen der Strukturen, der Plastizität von Gedanken, oder Formteilzollgebieten finden, sondern völlig flexibel zu jeder Zeit an jedem Ort blitzartig auftauchen können, nicht mehr die Struktur begründen. Solche Überlagerung verschiedener Zustände in einer Musik der notwendig fixierten Augenblicke kann nur, ja nur der Hörer leisten.
Er ist der Star der Qubits.
Obwohl ich inzwischen älter bin als alle oben von mir erwähnten Komponisten, ziehe ich es vor, mit unserem WM-Franz zu sagen: „Schaumer mal“.
(Nicolaus A. Huber, 2006)
CD:
WDR Sinfonieorchester Köln, Ltg: Peter Rundel
CD Coviello COV 61003
Bibliografie:
Hilberg, Frank: Aspekte der Instrumentation in den Orchesterwerken Nicolaus A. Hubers, in: Nicolaus A. Huber, hrsg. von Ulrich Tadday (= Musik-Konzepte. Neue Folge 168/169), München: edition text + kritik 2015, S. 104-123.
Kampe, Gordon: „Alles weg!“ Über das Verschwinden im Werk Nicolaus A. Hubers, in: Nicolaus A. Huber, hrsg. von Ulrich Tadday (= Musik-Konzepte. Neue Folge 168/169), München: edition text + kritik 2015, S. 64-79.