Arthur Lourié (1892–1966) Formes en l'air
[Klav] 1915
Lourié war einer der frühesten russischen Futuristen. Schon 1912 begann er mit Zwölftonkomplexen zu komponieren, 1915 veröffentlichte er Ideen zu einer Vierteltonnotation. „Formes en l'air“, ein Urmodell graphischer Komposition, ist Picasso gewidmet.
12 Seiten | 23 x 30,5 cm | 56 g | ISMN: 979-0-004-17502-6 | Broschur
Arthur Vincent Lourié hat sich selbst einmal als einen Komponisten eingeschätzt, der anderen Musikern ein intensives Verhältnis zur Poesie und bildenden Kunst voraus habe. Aktiv im Kreis der russischen Futuristen, war er einer der frühesten und vielseitigsten musikalischen Experimentatoren. Schon 1912 begann er mit Zwölftonkomplexen zu komponieren, 1915 veröffentlichte er in der Futuristenzeitschrift Strelec Ideen zu einer Viertelton-Notation. Aus diesem Jahre stammen auch seine Pablo Picasso gewidmeten Formen in der Luft, ein Urmodell graphischer Komposition. Harmonisch zeigen diese drei Miniaturen den herben, dissonanzreichen, Zusammenklänge mit Halbtonspannung bevorzugenden Stil der frühen experimentellen Periode, die dann wenig später abgelöst wurde von einer Wendung zur neuen Einfachheit, zu einer neuen Diatonik und Linearität, für die Lourié ebenfalls einer der frühesten Vorläufer war.
Zum Tempo und der Spielweise der Formes en l’air macht der Komponist keine Angaben, wobei – in Anbetracht der andererseits sehr minutiösen dynamischen Vorschriften – der Schluß naheliegt, daß er diese Frage in die intuitive Entscheidung des Interpreten stellt. Bei dieser Entscheidung ist zu bedenken, daß Lourié einer der frühesten und konsequentesten Vertreter eines neuen Klangideals der Sachlichkeit und Reduktion war: die Formen in der Luft sind nicht im Sinne Skrjabinscher Klangextase, sondern durchsichtig zu denken.
Wie sein Freund, der Dichter Alexander Blok, und die meisten russischen Futuristen hatte sich Lourié für die Oktoberrevolution engagiert. Von Lunačarskij als Musikkommissar berufen, bewirkte er als erster Musikminister des jungen Sowjetstaates, daß sich die linken, avantgardistischen Kunstströmungen zunächst entfalten konnten. 1922 kehrte er jedoch von einer Dienstreise, die ihn in Berlin mit Busoni und in Paris mit Strawinsky in Kontakt brachte, nicht zurück. Aus Frankreich als bolschewistischer Kommissar zunächst ausgewiesen, konnte er 1924 dann doch in Paris ansässig werden, von wo ihn 1941 die deutsche Besetzung vertrieb: Lourié, obschon getaufter und überzeugter Katholik, entstammte einer traditionsreichen, im Mittelalter aus Spanien vertriebenen jüdischen Familie. Auf Einladung Sergej Kusseviskijs konnte er in die Vereinigten Staaten emigrieren, wo er bis zu seinem Tode lebte, doch relativ unbekannt blieb und von der Neuen Musik nach dem II. Weltkrieg nicht mehr beachtet wurde. Lourié komponierte neben zahlreichen Orchester-, Kammer- und Solowerken zwei Opern auf Puskinsche Sujets: Das Festmahl wahrend der Pest (1935) und Der Mohr Peters des Großen (1961).
Detlef Gojowy, Herbst 1980