York Höller (*1944) Umbra
[Orch] 1979/80 Dauer: 21'
3(Picc).2.Eh.3(2B-Klar).2.Kfg – 4.3.3.1. – Schl(2. -3) – Hfe – Klav(Cel)E-Org.Synth – Str – Tb
UA: Saarbrücken, 15. Mai 1980
Die Darstellung des Schattenhaften, Dunklen, Dämonischen in der Kunst hat auf mich seit frühester Jugend stets eine viel stärkere Anziehungskraft ausgeübt als die Darstellung des Hellen, Heiteren. (Erst relativ spät wurde mir anhand der ,Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik' von Nietzsche die natürliche Affinität der Musik zur dunkel-dionysischen Welt des Rausches ebenso wie die ursprüngliche Beziehung der bildenden Künste zur hell-apollinischen Welt des Traumes bewußt). ,Umbra vitae', jene Gedichtsammlung, die vom Abgründigen, von den ,inneren' Schatten handelt - sie stammt von dem expressionistischen Lyriker Georg Heym -, gehört seit jeher zu meiner Lieblingslektüre. (Bereits mein letztes Orchesterwerk trug ursprünglich den von Heym entlehnten Titel ,Schwarze Halbinseln', den ich dann aber später aus formal-ästhetischen Erwägungen in ,Chroma' umgewandelt habe.)
Der Titel UMBRA (Schatten) ist in Hinsicht auf mein Orchesterwerk mehrdeutig. Zunächst umschreibt er den Aspekt, der beim Hören am unmittelbarsten wahrgenommen wird, den der Beziehung zwischen der instrumentalen und der elektroakustischen Klangebene.
Hier geht und ging es mir nie um eine bloße Addition, sondern um eine möglichst organische, funktionelle Wechselwirkung zwischen den beiden Medien, vergleichbar einer solchen zwischen Licht und Schatten. Dabei übernimmt in diesem Stück das Orchester - um einmal bei dieser sehr einfachen Metapher zu bleiben - gewissermaßen die Rolle des Lichts, das Tonband die des Schattens, insofern als die, den Orchesterinstrumenten anvertrauten, meist sehr deutlichen Klanggestalten häufig mit solchen auf dem Tonband korrespondieren, die zum weniger Deutlichen hin tendieren, zum großen Teil einer ,imaginären' Klanglandschaft anzugehören scheinen. (Diese Faszination angesichts ihrer quasi ,surrealen' Dimensionen ist eine der wesentlichen Ursachen dafür, daß ich mich in den letzten Jahren so intensiv der elektronischen Musik zugewandt habe.)
In Anbetracht meiner Konzeption eines organischen klanglichen Zusammenhangs gibt es auf dem Tonband keinen einzigen rein elektronischen Klang, sondern ausschließlich Klangstrukturen, deren Grundmaterial zuvor vom Orchester eingespielt, anschließend mit den Mitteln der elektronischen Musik bearbeitet, ,umgefärbt' wurde. Dabei ging ich mit dem Ziel einer Differenzierung bewußt von einer Skala verschiedener ,Verfremdungsgrade' aus, die vom nur geringfügig veränderten Originalklang bis hin zu Klangobjekten reicht, in denen der Originalklang nicht mehr zu erkennen ist.
Die Kriterien für eine Auswahl der Klänge ergaben sich aus meiner ganz persönlichen Vorstellung von einer ,Schönheits- und Ausdrucks-' Ästhetik, die nichts mit jenem naiven Rückgriff auf ,tonale' Elemente oder die bekannten Gesten des Expressionismus zu tun hat - Komponisten, die in diesen Gefilden operieren, gehören für mich zu den Scheintoten' -, sondern im Bewußtsein einer mühsam erworbenen Freiheit, sich von gewissen Klischees der Neuen Musik, zwar durchaus und mit Vehemenz auf Schönheit und Ausdruck hinzielt, aber mit der Prämisse einer größtmöglichen Individualisierung, die jeder ,Gruppen-Ästhetik' zuwiderläuft und ein krampfhaftes Bemühen um die Schaffung und Beibehaltung eines dafür gehaltenen ,Personalstils' ausschließt. (Das heißt nicht, daß ich die Frage des Personalstils für unwichtig halte; aber diese Frage wird ohnehin erst beantwortet, wenn das Gesamtoeuvre vorliegt.)
Ich ziehe es vor, zunächst einmal jedem einzelnen Werk, da es für mich den Rang einer Persönlichkeit hat, zu seiner eigenen Klanglichkeit, charakteristischen Ausdruckshaltung und individuellen Form zu verhelfen, eine Haltung, die mich z. B. nicht daran hindert, neben der Arbeit mit einem Computer bei IRCAM ein Stück für Flöte und Klavier zu komponieren. Denn eines ist sicher: Die Vielfalt in der Anwendung der musikalischen Mittel ist nicht notwendigerweise ein Ausdruck stilistischer Indifferenz; die innere Einheit des Schaffens kann trotzdem gegeben sein, da sie auf anderen Kriterien beruht.
Die ,Schatten-Idee' kommt auch in Bezug auf die Form zum Tragen. So beginnt das Stück mit den lichten Klängen von Violinen, zu denen später die von Harfe und Celesta treten, und es endet im düsteren Tremolo des tiefsten Kontrabaß-Registers. - Das musikalische Basismaterial besteht aus einer frei gewählten melodischen Struktur, aus der ein ,Repertoire' von sechs Akkorden unterschiedlicher Charakteristik und Komplexität sowie der zeitliche Grundriß des Stückes abgeleitet wurde. Außerdem entstand durch makroskopische Projektion der Grundgestalt eine Gesamtform, die einem Netzwerk vergleichbar ist, in dem es eine Reihe von Rückbezügen gibt, die zeitweise wie schattenhafte Erinnerungen an vorher Gehörtes wirken.
Insgesamt beruht das Werk auf einer zusammenhängenden musikalischen Syntax, deren Grundlage meine spezifische Theorie einer - so paradox das klingen mag - ,Konstruktion des Organischen' darstellt. Sie fußt auf meiner Grundvorstellung vom Kunstwerk als einem ,Organismus', von Form als Gestalt' (nicht als abstraktes Schema), die nicht a priori vorhanden, sondern direkt aus dem Material zu entwickeln ist, so daß - in Analogie zum tonalen System - Form und Inhalt, Material und Gestalt in einem sinnvollen, organischen Zusammenhang stehen.
(York Höller)
CD:
Rundfunk-Sinfonie-Orchester Saarbrücken, Ltg. Hans Zender
Tonband- realisiert im elektronischen Studio der Musikhochschule Köln
Koch/Schwann 3-5037-3