Helmut Lachenmann (*1935) Tanzsuite mit Deutschlandlied
Musik für Orchester mit Streichquartett [2Vl,Va,Vc,Orch] 1979/80 Dauer: 36'
Soli: 2Vl.Va.Vc – 4(4Picc.A-Fl).3.3.B-Klar.3.Kfg – 4.3.3.1 – Schl(4) – Hfe – Klav – Str: 10.10.8.8.6
Uraufführung: Donaueschingen (Donaueschinger Musiktage), 18. Oktober 1980
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Mehr als meine früheren Werke ist dieses durchsetzt von metrisch gebundenen Rhythmen und musikantischen Charakteren, die sich ständig umkristallisieren und auf vertraute Situationen hin- oder davon wegtreiben.
Vertrautes: Das sind tänzerische Gestalten und Musizierformeln, aber auch Lieder und in zwei Fällen Bruchstücke Bachscher Musik – spielerisch zusammengetragene Erinnerungen an Eindrücke, in welchen sich mir – bewußt und unbewußt – jene kollektive Geborgenheit verkörpert, in deren Schutz bürgerliches Denken und Empfinden, magisch behütet, heranwachsen und auseinander hervorgehen.
(Daß solche Geborgenheit vom kindlichen bis ins Erwachsenen-Stadium hinein ihre Fetische hat, ist bekannt: Heimat, religiöse Bindung, Feiertage, Tradition, Sehnsucht nach der Kindheit – mag auch die Oberflächlichkeit wenig von der Tiefe ahnen, die sich darunter auftut. Keine Frage auch, daß wir von solcher Geborgenheit selbst dann noch geprägt sind, wenn die Widersprüche und die Entfremdung des Daseins uns zwingen, aus ihrem Schutz herauszutreten, uns mit der Wirklichkeit erkennend und handelnd auseinanderzusetzen und uns dabei der Herrschaft solcher inneren Bindungen dort zu widersetzen, wo deren ursprüngliche Wahrheit zur verhängnisvollen Unwahrheit bequemer Illusion, hartnäckig und angstvoll beschworener Idylle und reaktionärer Borniertheit geworden ist.)
Meine Musik speist sich aus Gestalten, in denen solche Erinnerungen verkapselt sind. Dabei geht sie mit ihnen nicht viel anders um als wie in anderen Stücken mit den Elementen des traditionellen musikalischen Materialbegriffs, den sie schon von jeher als gesellschaftliches Produkt und Vorwegbestimmung des musikalischen Ausdrucks kompositorisch reflektiert, das heißt in strukturell erweiterten Zusammenhang gerückt und von dort expressiv neu bestimmt hat.
Ein solcher Umgang zielt auf die Bewältigung von Unfreiheit: Greifen als Teil des Begreifens, also nicht philosophische Reflexion, sondern eher künstlerisch zupackender Reflex durch Eingriff in die körperliche Unmittelbarkeit solcher vorgeprägten Elemente. Diese durchdringen und infizieren das Strukturgeschehen, bewirken dabei eine Musikantik, auf welche kein Verlaß ist; die Musik springt auf Rhythmen auf wie auf fahrende Vehikel, läßt sich von ihnen tragen, bis diese sich verformen oder zerfallen. So entsteht ein Gefälle rhythmisch geprägter Situationen: Folge und Ineinander von Tänzen und Strukturen.
Die Rolle des Solo-Streichquartetts ist vielfältig, obligat und konzertant, führend und begleitend in sich wandelndem Sinn. Als kammermusikalischer Apparat in einer Orchesterlandschaft angesiedelt, zwingt es dem Orchester immer wieder die eigenen Klangdimensionen auf, muß sich dabei gelegentlich überspielen lassen, nistet sich in die Löcher von Tuttifeldern ein, wirkt als Laus im Pelz, zwingt hinein- und herauszuhören.
Die Tanzsuite mit Deutschlandlied gliedert sich folgendermaßen:
I. Abteilung 1. Einleitung – 2. Walzer – 3. Marsch – 4. Überleitung –
II. Abteilung 5. Siciliano – 6. Capriccio – 7. Valse lente –
III. Abteilung 8. Überleitung – 9. Gigue – 10. Tarantelle – 11. Überleitung –
IV. Abteilung 12. Aria I – 13. Polka – 14. Aria II –
V. Abteilung 15. Einleitung – 16. Galopp 17. Coda (Aria III)
Alle 17 Teile gehen ineinander über.
(Helmut Lachenmann, 1980)
CDs/LP/DVD:
Arditti-Quartett, Deutsches Symphonie-Orchester Berlin, Ltg. Olaf Henzold
CD Montaigne Auvidis MO 782019
Berner Streichquartett, Sinfonieorchester des SWF, Ltg. Sylvain Cambreling (Ausschnitt)
CD BMG/RCA 74321 73510 2 (Musik in Deutschland 1950-2000)
Berner Streichquartett, Sinfonieorchester des SWF, Ltg. Sylvain Cambreling
LP DMR 1028-30
Arditti Quartet, SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Ltg. Hans Zender
Excerpt on CD „Auswahl von zehn Uraufführungen aus 70 Jahren“, SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg
Arditti Quartet, Staatsorchester Stuttgart, Ltg. Sylvain Cambreling
DVD „Lachenmann-Perspektiven 6“ (Breitkopf & Härtel, BHM 7816)
Bibliografie:
Cavalotti, Pietro: Differenzen. Poststrukturalistische Aspekte in der Musik der 1980er Jahre am Beispiel von Helmut Lachenmann, Brian Ferneyhough und Gérard Grisey (= Sonus. Schriften zur Musik, hrsg. von Andreas Ballsteadt, Band 8), Schliengen: Argus 2006, S. 79-128.
Hiekel, Jörn Peter: Helmut Lachenmann und seine Zeit, Laaber: Laaber 2023, S. 271-277.
Das sind doch alles Deutschlandlieder! Helmut Lachenmann im Gespräch mit Michael Rebhahn, in: Der Taktgeber. Das Magazin der Jungen Deutschen Philharmonie, Heft 40 (Sommer 2019), S. 6f
Stawowy, Milena: „Fluchtversuche in die Höhle des Löwen“. Helmut Lachenmanns „Tanzsuite mit Deutschlandlied“, in: MusikTexte 67/68 (1997), S. 77-90.
Toop, Richard: Concept and Context: A Historiographic Consideration of Lachenmanns Orchestral Works, in: Helmut Lachenmann Inward Beauty, hrsg. von Dan Albertson, Contemporary Music Review 23 (2004), Heft 3/4, S. 125-144.